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graffiti_historische_einordnung [2024/10/19 16:07] – [1.2. Entwicklung zur globalen Bewegung] graffitaro | graffiti_historische_einordnung [2024/10/26 14:51] (aktuell) – graffitaro |
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>»Es ging von Anfang an nur um FAME, um mich selbst, meinen Namen und Wettbewerb (Battle). Gerade diese egomane Klarheit fand ich lange befreiend. Das sich diese Tatsache für mich irgendwann als ziemlich banal und erschöpfend herausstellte, ist eine andere Geschichte.«((Rummler, Sandra: [[https://menetekel.org/publications/tdog/chapter-19-rummler|The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – IDEE UND WIRKLICHKEIT]], Abruf am 04.12.2022)) | >»Es ging von Anfang an nur um FAME, um mich selbst, meinen Namen und Wettbewerb (Battle). Gerade diese egomane Klarheit fand ich lange befreiend. Das sich diese Tatsache für mich irgendwann als ziemlich banal und erschöpfend herausstellte, ist eine andere Geschichte.«((Rummler, Sandra: [[https://menetekel.org/publications/tdog/chapter-19-rummler|The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – IDEE UND WIRKLICHKEIT]], Abruf am 04.12.2022)) |
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Bis zum weltweiten Siegeszug des American Graffiti in den 1980er Jahren entwickelte sich die Graffitiszene regional in unterschiedlichen soziokulturellen Bahnen und war im Wesentlichen durch politische Graffiti und Widerstandsgraffiti gekennzeichnet. Deshalb muss Versuchen, die Prägung des Style Writing in der Entstehungsphase auch anderen Entwicklungssträngen – beispielsweise den brasilianischen Pichação der 1940/50er Jahre – zuzuschreiben, widersprochen werden.((vgl. jedoch: Hartmann, Frank: [[https://menetekel.org/publications/tdog/chapter-6-hartmann|The Death of Graffiti (digitale Online-Version) – GRAFFITI ZOMBIES]], Abruf am 20.11.2022)) Unbenommen davon bleibt die korrekte Feststellung, dass sich die Weiterentwicklung des Style Writing nach der weltweiten Verbreitung lokal und temporär in durchaus unterschiedlichen Entfaltungs- und Stilrichtungen vollzog.((»Das Interessante an der Graffitibewegung ist, dass sie sich in jeder Stadt anders entwickelt. Es ist, als ob die physischen und kulturellen Eigenheiten der Stadt die Graffiti prägen.« – Lindblad, Tobias Barenthin: [[https://menetekel.org/publications/tdog/chapter-12-lindblad#fnref1:2|The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – TOD UND LEBEN VON GRAFFITI]], Abruf am 23.11.202270)) | Bis zum weltweiten Siegeszug des American Graffiti in den 1980er Jahren entwickelte sich die Graffitiszene regional in unterschiedlichen soziokulturellen Bahnen und war im Wesentlichen durch politische Graffiti und Widerstandsgraffiti gekennzeichnet. Deshalb muss Versuchen, die Prägung des Style Writing in der Entstehungsphase auch anderen Entwicklungssträngen – beispielsweise den brasilianischen Pichação der 1940/50er Jahre – zuzuschreiben, widersprochen werden.((vgl. jedoch: Hartmann, Frank: [[https://menetekel.org/publications/tdog/chapter-6-hartmann|The Death of Graffiti (digitale Online-Version) – GRAFFITI ZOMBIES]], Abruf am 20.11.2022)) Unbenommen davon bleibt die korrekte Feststellung, dass sich die Weiterentwicklung des Style Writing nach der weltweiten Verbreitung lokal und temporär in durchaus unterschiedlichen Entfaltungs- und Stilrichtungen vollzog.((»Das Interessante an der Graffitibewegung ist, dass sie sich in jeder Stadt anders entwickelt. Es ist, als ob die physischen und kulturellen Eigenheiten der Stadt die Graffiti prägen.« – Lindblad, Tobias Barenthin: [[https://menetekel.org/publications/tdog/chapter-12-lindblad#fnref1:2|The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – TOD UND LEBEN VON GRAFFITI]], Abruf am 23.11.2022)) |
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Graffiti (in der verkürzten Bedeutung des Style Writing) werden nach vorherrschender wissenschaftlicher Ansicht der Hip-Hop-Subkultur zugeordnet. Obwohl diese Zuordnung eher akademischer Natur ist, bestehen unübersehbare Gemeinsamkeiten mit den anderen originären Hip-Hop-Domänen Rap, Scratching (DJing) und Breakdance, die um die 1970er Jahre in den USA jenseits der etablierten Ordnung und Kultur durch Jugendliche aus prekären Gesellschaftsschichten geschaffen wurden. Alle Bestandteile des Hip-Hop sind kompetitive, vorrangig jugendliche Kommunikationsformen und kopieren anteilig kulturelle Elemente der etablierten Ordnung. Style Writing steht dabei für die kalligrafisch gemalte Schrift, Rap für das harmonisch gesprochene Wort, Scratching für die rhythmisch verfremdete Musik und Breakdance für den akrobatisch bewegten Körper. Die wesentliche Besonderheit von Style Writing im Hip-Hop-Vergleich ist, dass die unbefugt erstellten Zeichen üblicherweise mit Eigentumsrechten im öffentlichen oder privaten Raum kollidieren. Ändern sie dabei "das Erscheinungsbild einer fremden Sache [oder einer Sache mit öffentlichem Interesse] nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend", erfüllen Sie nach deutschem Recht den Straftatbestand der Sachbeschädigung / Gemeinschädlichen Sachbeschädigung und sind illegal. | Graffiti (in der verkürzten Bedeutung des Style Writing) werden nach vorherrschender wissenschaftlicher Ansicht der Hip-Hop-Subkultur zugeordnet. Obwohl diese Zuordnung eher akademischer Natur ist, bestehen unübersehbare Gemeinsamkeiten mit den anderen originären Hip-Hop-Domänen Rap, Scratching (DJing) und Breakdance, die um die 1970er Jahre in den USA jenseits der etablierten Ordnung und Kultur durch Jugendliche aus prekären Gesellschaftsschichten geschaffen wurden. Alle Bestandteile des Hip-Hop sind kompetitive, vorrangig jugendliche Kommunikationsformen und kopieren anteilig kulturelle Elemente der etablierten Ordnung. Style Writing steht dabei für die kalligrafisch gemalte Schrift, Rap für das harmonisch gesprochene Wort, Scratching für die rhythmisch verfremdete Musik und Breakdance für den akrobatisch bewegten Körper. Die wesentliche Besonderheit von Style Writing im Hip-Hop-Vergleich ist, dass die unbefugt erstellten Zeichen üblicherweise mit Eigentumsrechten im öffentlichen oder privaten Raum kollidieren. Ändern sie dabei "das Erscheinungsbild einer fremden Sache [oder einer Sache mit öffentlichem Interesse] nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend", erfüllen Sie nach deutschem Recht den Straftatbestand der Sachbeschädigung / Gemeinschädlichen Sachbeschädigung und sind illegal. |
Alle Hip-Hop-Domänen konnten sich einer Vermarktung und anteiligen Vereinnahmung durch das etablierte System nicht entziehen. Eine gewisse Sonderstellung nimmt dabei das Style Writing ein, da illegal gemalte Tags, Throw-Ups und Pieces sich meist nicht gezielt und unter Beteiligung des Writers vermarkten lassen.((Eine der wenigen Ausnahmen stellen hier Werke von Banksy, Blek le Rat und einigen weiteren Künstlern dar, die teilweise aus der Wand herausgemeißelt oder geschnitten werden, um sie dann (ohne Beteiligung des Künstlers) zu vermarkten.)) Der schwedische Writer Tobias Barenthin Lindblad berichtet aus eigener Erfahrung: | Alle Hip-Hop-Domänen konnten sich einer Vermarktung und anteiligen Vereinnahmung durch das etablierte System nicht entziehen. Eine gewisse Sonderstellung nimmt dabei das Style Writing ein, da illegal gemalte Tags, Throw-Ups und Pieces sich meist nicht gezielt und unter Beteiligung des Writers vermarkten lassen.((Eine der wenigen Ausnahmen stellen hier Werke von Banksy, Blek le Rat und einigen weiteren Künstlern dar, die teilweise aus der Wand herausgemeißelt oder geschnitten werden, um sie dann (ohne Beteiligung des Künstlers) zu vermarkten.)) Der schwedische Writer Tobias Barenthin Lindblad berichtet aus eigener Erfahrung: |
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>»Ein Piece oder Tag verkauft nichts. Nicht einmal sich selbst. Es hat sich von allen Hiphop-Elementen als am schwersten zu verkaufen erwiesen.«((Lindblad, Tobias Barenthin: [[https://menetekel.org/publications/tdog/chapter-12-lindblad#fnref1:2|The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – TOD UND LEBEN VON GRAFFITI]], Abruf am 23.11.202270)) | >»Ein Piece oder Tag verkauft nichts. Nicht einmal sich selbst. Es hat sich von allen Hiphop-Elementen als am schwersten zu verkaufen erwiesen.«((Lindblad, Tobias Barenthin: [[https://menetekel.org/publications/tdog/chapter-12-lindblad#fnref1:2|The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – TOD UND LEBEN VON GRAFFITI]], Abruf am 23.11.2022)) |
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Auch wenn sich ein illegales Piece nur schwer direkt vermarkten lässt, haben findige Geschäftsleute in den USA schnell erkannt, dass der inspirativ-anrüchige Spirit von Graffiti eine hervorragende Geschäftsgrundlage darstellt. Bereits in den frühen 1970er Jahren begann dort eine gnadenlose Kommerzialisierung von Graffiti. In den 1980er Jahren kam die Vermarktungswelle auch in Europa und Deutschland an. Johannes Stahl schreibt dazu mit sarkastischem Unterton: | Auch wenn sich ein illegales Piece nur schwer direkt vermarkten lässt, haben findige Geschäftsleute in den USA schnell erkannt, dass der inspirativ-anrüchige Spirit von Graffiti eine hervorragende Geschäftsgrundlage darstellt. Bereits in den frühen 1970er Jahren begann dort eine gnadenlose Kommerzialisierung von Graffiti. In den 1980er Jahren kam die Vermarktungswelle auch in Europa und Deutschland an. Johannes Stahl schreibt dazu mit sarkastischem Unterton: |
Die heutige gesellschaftliche und teilweise auch wissenschaftliche Wahrnehmung von Graffiti wird durch die jugendkulturelle Erscheinung Szene-Graffiti, die direkt aus dem Style Writing hervorging, dominiert.((»Die dominierende Form der Gegenwart ist das Szene-Graffiti, eine jugendkulturelle und überwiegend illegale Erscheinung, deren Ästhetik durch Sprühdose und Farbstift geprägt ist. Es hat seinen Ursprung in der amerikanischen Graffiti-Kultur der 1960er- und 1970er-Jahre […] Als Teil der Hip-Hop-Bewegung wurde die amerikanische Graffiti-Kultur im Laufe der 1980er-Jahre zu einem globalen Phänomen […]« – Papenbrock, Martin / Tophinke, Doris (2018): Graffiti digital. Das Informationssystem Graffiti in Deutschland (INGRID). In: Zeithistorische Forschungen, [[https://zeithistorische-forschungen.de/1-2018/id=5571|https://zeithistorische-forschungen.de/1-2018/id=5571]] , Abruf am 20.01.2022)) Sie ist gekennzeichnet durch globale Vernetzung über illegale Aktivitäten hinaus bis hinein in etablierte politische, künstlerische und industrielle Kreise. | Die heutige gesellschaftliche und teilweise auch wissenschaftliche Wahrnehmung von Graffiti wird durch die jugendkulturelle Erscheinung Szene-Graffiti, die direkt aus dem Style Writing hervorging, dominiert.((»Die dominierende Form der Gegenwart ist das Szene-Graffiti, eine jugendkulturelle und überwiegend illegale Erscheinung, deren Ästhetik durch Sprühdose und Farbstift geprägt ist. Es hat seinen Ursprung in der amerikanischen Graffiti-Kultur der 1960er- und 1970er-Jahre […] Als Teil der Hip-Hop-Bewegung wurde die amerikanische Graffiti-Kultur im Laufe der 1980er-Jahre zu einem globalen Phänomen […]« – Papenbrock, Martin / Tophinke, Doris (2018): Graffiti digital. Das Informationssystem Graffiti in Deutschland (INGRID). In: Zeithistorische Forschungen, [[https://zeithistorische-forschungen.de/1-2018/id=5571|https://zeithistorische-forschungen.de/1-2018/id=5571]] , Abruf am 20.01.2022)) Sie ist gekennzeichnet durch globale Vernetzung über illegale Aktivitäten hinaus bis hinein in etablierte politische, künstlerische und industrielle Kreise. |
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Ab den 2010er Jahren nahmen die politischen Aktivitäten kontra Graffiti in Deutschland wieder ab. Die meisten Sondereinheiten der Polizei zur Graffitibekämpfung wurden aufgelöst, Anti-Graffiti-Vereine stellten ihre Tätigkeit ein und viele Anti-Graffiti-Mobile fahren nicht mehr. Graffiti (oder präziser: als Graffiti wahrgenommene Werke) als anteilig kommerzialisierte Kunstform erlangten – zumindest in Teilen der Gesellschaft – Akzeptanz. Kreativität und Esprit von Graffiti begeistern heute zunehmend selbst bildungsnahe, systemkonforme Menschen, die – auf der Suche nach neuen Erlebnissen und Erfahrungen, gelegentlich auch zur Überwindung von Langeweile – Graffiti als Inspirationsquelle mit wohlig-anrüchiger Aura für sich entdecken und sich in unautorisierten Banksy-Ausstellungen gegenseitig die Klinke in die Hand geben. Auch die Sprayer selbst rekrutieren sich mittlerweile aus ausnahmslos allen Schichten der Gesellschaft. Handwerker verdienen mit Graffitibeseitigung und -prävention ihre Brötchen und gereifte Sprayer bieten ihre Dienste zur legalen Verschönerung von Hausgiebeln an. Graffitiausstatter verkaufen offiziell Spraydosen, Marker und sonstiges Handwerkszeug für den legalen und illegalen Gebrauch. Sozialisierte Aussteiger der illegal tätigen Graffiti-Szene und nachwachsende Graffiti-Mäzenen der etablierten Kunst((Tobias Barenthin Lindblad bemängelt, dass sich die etablierte Kunst schwer tut, das Wesen von Graffiti jenseits von Kunst zu erkennen und macht als Ursache dafür die fehlende wissenschaftliche Aufarbeitung von Graffiti aus: »Kurz nach dem Durchbruch vom Punk kamen die ersten wissenschaftlichen Theorien darüber. Nach fast fünfzig Jahren gibt es immer noch keine entwickelte Theorie über Graffiti. Dies mag der Grund sein, warum die zeitgenössische Kunst es so verzweifelt schwer hat, Graffiti zu verstehen. Gleichzeitig ist es sicher, wie Jacob Kimvall sagt, dass die Kunst Graffiti eher braucht als umgekehrt. Der Graffitibewegung geht es auf eigene Faust ganz gut.« – Lindblad, Tobias Barenthin: [[https://menetekel.org/publications/tdog/chapter-12-lindblad#fnref1:2|The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – TOD UND LEBEN VON GRAFFITI]], Abruf am 23.11.2022)) gründen Interessenvertretungen, die als Körperschaften des öffentlichen Rechts staatlich gefördert werden und – auf der Jagd nach legalen Flächen und Auftragsarbeiten – einen Rückgang illegaler Graffiti versprechen. Volkshochschulen bieten Graffiti-Handwerkskurse an, in denen dem jugendlichen Nachwuchs von 30-/40-jährigen Veteranen beigebracht wird, wie der Pfeil korrekt am Buchstabenabschwung gesetzt wird.((Matze Jung weist als Insider auf die altruistische Verklärung der Graffitiveteranen hin: »[…] die „alten Hasen“ sind in der Regel mächtig stolz darauf, dass sie „die Kultur weiterreichen an die nächste Generation“ und sich so verdient machen um das Fortbestehen von beispielsweise „Respekt“ als zentralem Moment innerhalb der Szene. Ansonsten bleibt es meist dabei, dass die Jüngeren gezeigt bekommen wie man die Pfeile richtig an die Buchstaben bastelt, dass Streetart minderwertig ist und der vielbeschworene „Respekt“ eben doch Ausnahmen kennt.« Jung, Matze: [[https://menetekel.org/publications/tdog/chapter-20-jung|The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – „EACH ONE TEACH ONE“ – ABER WAS DENN EIGENTLICH?]], Abruf am 05.12.2022)) Oberbürgermeister outen sich als Graffiti-Freunde und legen bei der Einweihung der städtischen Wall of Fame auch gern mal selber Hand an, verstehen dann jedoch die Welt nicht mehr, wenn das berühmteste Kulturdenkmal der Stadt mit Tags aller Couleur "verziert" wird. Selbst Hard-Core-Writer scheuen sich mittlerweile nicht mehr, medienwirksam die Umwandlung von ihnen beanspruchter Flächen in legale Wände und "Disneyland-Billboards" zu kritisieren und in diesem Kontext auf die Zerstörung ihrer (unautorisierten) Werke und den Verlust ihres natürlichen Lebensraums hinzuweisen. Auch beklagen Teile der Szene die zunehmende Anzahl von Toys((Als Toy wird im Graffitijargon ein minderwertiges Graffito oder auch ein Anfänger oder unbegabter Akteur bezeichnet.)), insbesondere an kulturhistorisch wertvollen Objekten. Dies diskreditiere die gesamte Szene, die sich größtenteils an Tabu-Kodexe halte. | Ab den 2010er Jahren nahmen die politischen Aktivitäten kontra Graffiti in Deutschland wieder ab. Die meisten Sondereinheiten der Polizei zur Graffitibekämpfung wurden aufgelöst, Anti-Graffiti-Vereine stellten ihre Tätigkeit ein und viele Anti-Graffiti-Mobile fahren nicht mehr. Graffiti (oder präziser: als Graffiti wahrgenommene Werke) als anteilig kommerzialisierte Kunstform erlangten – zumindest in Teilen der Gesellschaft – Akzeptanz. Kreativität und Esprit von Graffiti begeistern heute zunehmend selbst bildungsnahe, systemkonforme Menschen, die – auf der Suche nach neuen Erlebnissen und Erfahrungen, gelegentlich auch zur Überwindung von Langeweile – Graffiti als Inspirationsquelle mit wohlig-anrüchiger Aura für sich entdecken und sich in unautorisierten Banksy-Ausstellungen gegenseitig die Klinke in die Hand geben. Auch die Sprayer selbst rekrutieren sich mittlerweile aus ausnahmslos allen Schichten der Gesellschaft. Handwerker verdienen mit Graffitibeseitigung und -prävention ihre Brötchen und gereifte Sprayer bieten ihre Dienste zur legalen Verschönerung von Hausgiebeln an. Graffitiausstatter verkaufen offiziell Spraydosen, Marker und sonstiges Handwerkszeug für den legalen und illegalen Gebrauch. Sozialisierte Aussteiger der illegal tätigen Graffiti-Szene und nachwachsende Graffiti-Mäzenen der etablierten Kunst((Tobias Barenthin Lindblad bemängelt, dass sich die etablierte Kunst schwer tut, das Wesen von Graffiti jenseits von Kunst zu erkennen und macht als Ursache dafür die fehlende wissenschaftliche Aufarbeitung von Graffiti aus: »Kurz nach dem Durchbruch vom Punk kamen die ersten wissenschaftlichen Theorien darüber. Nach fast fünfzig Jahren gibt es immer noch keine entwickelte Theorie über Graffiti. Dies mag der Grund sein, warum die zeitgenössische Kunst es so verzweifelt schwer hat, Graffiti zu verstehen. Gleichzeitig ist es sicher, wie Jacob Kimvall sagt, dass die Kunst Graffiti eher braucht als umgekehrt. Der Graffitibewegung geht es auf eigene Faust ganz gut.« – Lindblad, Tobias Barenthin: [[https://menetekel.org/publications/tdog/chapter-12-lindblad#fnref1:2|The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – TOD UND LEBEN VON GRAFFITI]], Abruf am 23.11.2022)) gründen Interessenvertretungen, die als Körperschaften des öffentlichen Rechts staatlich gefördert werden und – auf der Jagd nach legalen Flächen und Auftragsarbeiten – einen Rückgang illegaler Graffiti versprechen. Volkshochschulen bieten Graffiti-Handwerkskurse an, in denen dem jugendlichen Nachwuchs von 30-/40-jährigen Veteranen beigebracht wird, wie der Pfeil korrekt am Buchstabenabschwung gesetzt wird.((Matze Jung weist als Insider auf die altruistische Verklärung der Graffitiveteranen hin: »[…] die „alten Hasen“ sind in der Regel mächtig stolz darauf, dass sie „die Kultur weiterreichen an die nächste Generation“ und sich so verdient machen um das Fortbestehen von beispielsweise „Respekt“ als zentralem Moment innerhalb der Szene. Ansonsten bleibt es meist dabei, dass die Jüngeren gezeigt bekommen wie man die Pfeile richtig an die Buchstaben bastelt, dass Streetart minderwertig ist und der vielbeschworene „Respekt“ eben doch Ausnahmen kennt.« Jung, Matze: [[https://menetekel.org/publications/tdog/chapter-20-jung|The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – „EACH ONE TEACH ONE“ – ABER WAS DENN EIGENTLICH?]], Abruf am 05.12.2022)) Oberbürgermeister outen sich als Graffiti-Freunde und legen bei der Einweihung der städtischen Wall of Fame auch gern mal selber Hand an, verstehen dann jedoch die Welt nicht mehr, wenn das berühmteste Kulturdenkmal der Stadt mit Tags aller Couleur "verziert" wird. Selbst Hard-Core-Writer scheuen sich mittlerweile nicht mehr, medienwirksam die Umwandlung von ihnen beanspruchter Flächen in legale Wände und "Disneyland-Billboards" zu kritisieren und in diesem Kontext auf die Zerstörung ihrer (unbefugt erstellten) Werke und den Verlust ihres natürlichen Lebensraums hinzuweisen. Auch beklagen Teile der Szene die zunehmende Anzahl von Toys((Als Toy wird im Graffitijargon ein minderwertiges Graffito oder auch ein Anfänger oder unbegabter Akteur bezeichnet.)), insbesondere an kulturhistorisch wertvollen Objekten. Dies diskreditiere die gesamte Szene, die sich größtenteils an Tabu-Kodexe halte. |
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Generell ist im Kontext des aktuellen Zeitgeists und dessen Fokussierung auf die Befindlichkeiten gesellschaftlicher Randgruppen eine spürbare Zunahme des Selbstbewusstseins und der Aktivitäten der originären, unautorisiert tätigen Graffitiszene zu verzeichnen. Obwohl formal zweifellos illegal unterwegs, fordert diese Gruppe öffentlichkeitswirksam die gesellschaftliche Anerkennung ihrer Stellung als kulturelle Singularität ein. Insbesondere wird in diesem Zusammenhang jegliche Kommerzialisierung von Graffiti durch (legale) Auftragsarbeiten im Rahmen von Street Art, Urban Art, aber auch Werbung oder politische Propaganda abgelehnt. Anbiederungsversuche von Staat, etablierter Kunst und Wirtschaft (bezahlte Flächengestaltung, Promotion von Immobilien, legale Flächen, Kunst- und Verkaufsausstellungen, Graffitikurse u. a.) werden skeptisch gesehen. Nicht selten werden dabei – im zeitgeistlichen Jargon – Vorwürfe bezüglich kultureller Aneignung((Bemängelt wird, dass der originäre Begriff "Graffiti" als anarchische, unautorisierte Botschaft auch für beauftragte, meist bezahlte, autorisierte Werke beansprucht wird, die – wenn überhaupt – lediglich äußerliche Ähnlichkeiten mit Graffiti aufweisen.)), Artwashing((Nutzung von Kunst zur Legitimierung eines ansonsten negativ besetzten Sachverhalts, häufig im Kontext von Gentrifizierung.)), Cultural Camouflage((Verschleierung negativ besetzter gesellschaftlicher Aspekte als positive kulturelle Erscheinung. Ähnlich wie Artwashing oft im Kontext von Gentrifizierung genutzt.)) und Sellout(((Überhand nehmende) Tätigkeiten der Graffitiszene gegen Bezahlung, oft aus finanziellen Nöten. Bemängelt wird, dass dabei ein Ausverkauf des originär anarchischen, kommerzverachtenden Wesens von Graffiti erfolgt.)) laut. Oft manifestiert sich die Ablehnung der Hard-Core-Szene im illegalen Übermalen oder Zerstören von legal erstellten "Graffiti", insbesondere auf Flächen, welche die illegale Szene für sich beansprucht. | Generell ist im Kontext des aktuellen Zeitgeists und dessen Fokussierung auf die Befindlichkeiten gesellschaftlicher Randgruppen eine spürbare Zunahme des Selbstbewusstseins und der Aktivitäten der originären, unbefugt tätigen Graffitiszene zu verzeichnen. Obwohl formal zweifellos größtenteils illegal unterwegs, fordert diese Gruppe öffentlichkeitswirksam die gesellschaftliche Anerkennung ihrer Stellung als kulturelle Singularität ein. Insbesondere wird in diesem Zusammenhang jegliche Kommerzialisierung von Graffiti durch (legale) Auftragsarbeiten im Rahmen von Street Art, Urban Art, aber auch Werbung oder politische Propaganda abgelehnt. Anbiederungsversuche von Staat, etablierter Kunst und Wirtschaft (bezahlte Flächengestaltung, Promotion von Immobilien, legale Flächen, Kunst- und Verkaufsausstellungen, Graffitikurse u. a.) werden skeptisch gesehen. Nicht selten werden dabei – im zeitgeistlichen Jargon – Vorwürfe bezüglich kultureller Aneignung((Bemängelt wird, dass der originäre Begriff "Graffiti" als anarchische, gesetzestrotzende Botschaft auch für beauftragte, meist bezahlte und sonstige genehmigte Werke beansprucht wird, die – wenn überhaupt – lediglich äußerliche Ähnlichkeiten mit Graffiti aufweisen.)), Artwashing((Nutzung von Kunst zur Legitimierung eines ansonsten negativ besetzten Sachverhalts, häufig im Kontext von Gentrifizierung.)), Cultural Camouflage((Verschleierung negativ besetzter gesellschaftlicher Aspekte als positive kulturelle Erscheinung. Ähnlich wie Artwashing oft im Kontext von Gentrifizierung genutzt.)) und Sellout(((Überhand nehmende) Tätigkeiten der Graffitiszene gegen Bezahlung, oft aus finanziellen Nöten. Bemängelt wird, dass dabei ein Ausverkauf des originär anarchischen, kommerzverachtenden Wesens von Graffiti erfolgt.)) laut. Oft manifestiert sich die Ablehnung der Hard-Core-Szene im illegalen Übermalen oder Zerstören von legal erstellten "Graffiti", insbesondere auf Flächen, welche die illegale Szene für sich beansprucht. |
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Eine neue Dimension nicht nur der Kommerzialisierung von Graffiti, sondern auch der kommerziellen Ausbeutung der Szeneakteure, wird erreicht durch Graffiti-Promotion neuer, hochpreisiger Immobilien, die alte, oft verfallene Bauten im urbanen Raum der Großstädte ersetzen sollen. Vor Errichtung der neuen Immobilie wird dabei die alte, abzureißende für Graffitiakteure unter gewissen Vorgaben freigegeben und medienwirksam als Kunstprojekt vermarktet. Hauptziel der Bauherren ist dabei die Erhöhung der Akzeptanz und der Vermarktungschancen ihrer späteren Neubauten im schwierigen, oft gentrifizierten urbanen Umfeld. Ähnliche Projekte gibt es, um die Akzeptanz bereits bestehender Immobilien zu erhöhen. Die meist finanziell klammen Szeneakteure sind oft auf die Einnahmen aus solchen Tätigkeiten angewiesen.((Jenz Steiner, der mit 13 anfing zu malen, zeigt als gereifter 38jähriger Writer Verständnis und Gelassenheit gegenüber solchen Erscheinungen: »Manche verdienen Geld mit Graffiti. Inzwischen finde ich das auch okay, da ich weiß, dass Graffiti gegen alles mögliche resistent ist, gegen Kommerzialisierung, Strafverfolgung, Spießertum, was auch immer. Graffiti wandelt immer mal wieder sein Gesicht, ist Gegenkultur, Teil und Spiegel der Gesellschaft gleichermaßen.« – Steiner, Jenz: [[https://menetekel.org/publications/tdog/chapter-5-steiner|The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – EIN LEBENDIGER TEIL VON MIR]], Abruf am 20.11.2022)) Die tatsächliche Bezahlung für teilweise künstlerisch hochwertige Werke liegt dabei oft unter dem, was ein Handwerker für das Weißen der Fläche verlangen würde.((Der Rundfunk Berlin-Brandenburg beleuchtet im Beitrag //Dose gegen Goliath – Killt Kommerz Kunst?// vom 19.07.2023 solche Praktiken anhand mehrerer Beispiele aus Berlin [[https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL3JiYl80NmNmNjNiZi1mZWVkLTRkZWUtYjk4OS05ODYyM2NlNDJlMTNfcHVibGljYXRpb24|Link zum Video]])) | Eine neue Dimension nicht nur der Kommerzialisierung von Graffiti, sondern auch der kommerziellen Ausbeutung der Szeneakteure, wird erreicht durch Graffiti-Promotion neuer, hochpreisiger Immobilien, die alte, oft verfallene Bauten im urbanen Raum der Großstädte ersetzen sollen. Vor Errichtung der neuen Immobilie wird dabei die alte, abzureißende für Graffitiakteure unter gewissen Vorgaben freigegeben und medienwirksam als Kunstprojekt vermarktet. Hauptziel der Bauherren ist dabei die Erhöhung der Akzeptanz und der Vermarktungschancen ihrer späteren Neubauten im schwierigen, oft gentrifizierten urbanen Umfeld. Ähnliche Projekte gibt es, um die Akzeptanz bereits bestehender Immobilien zu erhöhen. Die meist finanziell klammen Szeneakteure sind oft auf die Einnahmen aus solchen Tätigkeiten angewiesen.((Jenz Steiner, der mit 13 anfing zu malen, zeigt als gereifter 38jähriger Writer Verständnis und Gelassenheit gegenüber solchen Erscheinungen: »Manche verdienen Geld mit Graffiti. Inzwischen finde ich das auch okay, da ich weiß, dass Graffiti gegen alles mögliche resistent ist, gegen Kommerzialisierung, Strafverfolgung, Spießertum, was auch immer. Graffiti wandelt immer mal wieder sein Gesicht, ist Gegenkultur, Teil und Spiegel der Gesellschaft gleichermaßen.« – Steiner, Jenz: [[https://menetekel.org/publications/tdog/chapter-5-steiner|The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – EIN LEBENDIGER TEIL VON MIR]], Abruf am 20.11.2022)) Die tatsächliche Bezahlung für teilweise künstlerisch hochwertige Werke liegt dabei oft unter dem, was ein Handwerker für das Weißen der Fläche verlangen würde.((Der Rundfunk Berlin-Brandenburg beleuchtet im Beitrag //Dose gegen Goliath – Killt Kommerz Kunst?// vom 19.07.2023 solche Praktiken anhand mehrerer Beispiele aus Berlin [[https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL3JiYl80NmNmNjNiZi1mZWVkLTRkZWUtYjk4OS05ODYyM2NlNDJlMTNfcHVibGljYXRpb24|Link zum Video]])) |
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Der Siegeszug der heute allgegenwärtigen Smartphones mit hochauflösenden Multitouch-Displays und vollwertigen Kameras, der Ausbau der mobilen Datenverbindungen, das Web 2.0 und die neuen sozialen Medien erlaubten – mit einem Griff in die Hosentasche – eine vollkommen neue Qualität der bildlichen Kommunikation und Vernetzung. Viele Style Writer und sonstige graffitinahe Akteure im Bereich Urban Art nutzen die neuen Medien zur Erstellung, Dokumentation, Verbreitung und Vermarktung ihrer Werke. Während gedruckte Graffiti-Magazine oft nach wenigen Ausgaben ihre Produktion einstellen und generell anzahlmäßig abnehmen, ist das Internet mittlerweile von Szene-Graffiti-Webseiten überschwemmt. Im Kontext politische Graffiti muss festgestellt werden, dass die Möglichkeiten der Teilhabe aller Bürger an der politischen Meinungsbildung durch Petitionsportale, Foren, soziale Netzwerke, Kommentarfunktionen und sonstige basisdemokratischen Zugeständnisse (zumindest formal) erheblich erweitert wurden. Trotz der neuen digitalen Möglichkeiten, der erweiterten Teilhabe an der politischen Meinungsbildung und der Annäherungsversuche von Graffiti und Kunst hat sich die Hoffnung mancher, die unautorisierten Zeichen würden vollständig oder zumindest größtenteils in den virtuellen Raum des Internets und der sozialen Medien abwandern oder sich in die etablierte Kunstszene integrieren, nicht erfüllt. Ein Gang durch die Straßen unserer Großstädte und die offiziellen Zahlen der Kriminalstatistik offenbaren unmissverständlich, dass nur wenige Graffiti-Akteure den urbanen Raum als unautorisierten Tätigkeitsbereich gänzlich aufgegeben haben und entstehende Lücken vollständig durch Nachwuchs geschlossen werden. Die unautorisiert bemalten Wände waren, sind und bleiben auf absehbare Zeit der originäre Lebensraum von Graffiti. | Der Siegeszug der heute allgegenwärtigen Smartphones mit hochauflösenden Multitouch-Displays und vollwertigen Kameras, der Ausbau der mobilen Datenverbindungen, das Web 2.0 und die neuen sozialen Medien erlaubten – mit einem Griff in die Hosentasche – eine vollkommen neue Qualität der bildlichen Kommunikation und Vernetzung. Viele Style Writer und sonstige graffitinahe Akteure im Bereich Urban Art nutzen die neuen Medien zur Erstellung, Dokumentation, Verbreitung und Vermarktung ihrer Werke. Während gedruckte Graffiti-Magazine oft nach wenigen Ausgaben ihre Produktion einstellen und generell anzahlmäßig abnehmen, ist das Internet mittlerweile von Szene-Graffiti-Webseiten überschwemmt. Im Kontext politische Graffiti muss festgestellt werden, dass die Möglichkeiten der Teilhabe aller Bürger an der politischen Meinungsbildung durch Petitionsportale, Foren, soziale Netzwerke, Kommentarfunktionen und sonstige basisdemokratischen Zugeständnisse (zumindest formal) erheblich erweitert wurden. Trotz der neuen digitalen Möglichkeiten, der erweiterten Teilhabe an der politischen Meinungsbildung und der Annäherungsversuche von Graffiti und Kunst hat sich die Hoffnung mancher, die gesetzlosen Zeichen würden vollständig oder zumindest größtenteils in den virtuellen Raum des Internets und der sozialen Medien abwandern oder sich in die etablierte Kunstszene integrieren, nicht erfüllt. Ein Gang durch die Straßen unserer Großstädte und die offiziellen Zahlen der Kriminalstatistik offenbaren unmissverständlich, dass nur wenige Graffiti-Akteure den urbanen Raum als unbefugt genutzten Tätigkeitsbereich gänzlich aufgegeben haben und entstehende Lücken vollständig durch Nachwuchs geschlossen werden. Die unbefugt bemalten Wände waren, sind und bleiben auf absehbare Zeit der originäre Lebensraum von Graffiti. |
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Die Graffiti-Szene stellt sich heute inhomogen dar (was sie bei näherer Betrachtung schon immer war).((Szeneinsider Matze Jung räumt mit der bei Außenstehenden oft verbreiteten Vorstellungen über die verschworene Gemeinschaft der Graffitiszene auf: »Zwar herrscht ein diffuses Bewusstsein der Graffitiszene „an sich“, was darin zum Ausdruck kommt, dass man sich auf einen gemeinsamen Feind, grobe Spielregeln, anerkannte Techniken, prestigeträchtige Maluntergründe und Aktionsorte einigt sowie – bisweilen aus purem Opportunismus – freundschaftliche Kontakte zu anderen Graffitisten pflegt. Eine „Szene für sich“, die einen solidarischen Umgang untereinander pflegt, lässt sich, abgesehen von Ausnahmen vor allem in kleineren Städten, nicht ausmachen, wenngleich dies aus unmittelbaren, egoistischen Gründen naheliegend wäre.« – Jung, Matze: [[https://menetekel.org/publications/tdog/chapter-20-jung|The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – „EACH ONE TEACH ONE“ – ABER WAS DENN EIGENTLICH?]], Abruf am 05.12.2022)) Den mit weit über der Hälfte (ca. 65 %) aller Sprayer mit Abstand größten Anteil stellen Akteure dar, die institutionelle Angebote (legale Wände, Auftragsarbeiten, Vereine, Kunstausstellungen, Kurse etc.) annehmen, jedoch nebenher weiterhin illegal tätig sind. Ca. ein Fünftel der Sprayer ist der Hard-Core-Szene zuzuordnen, die nur illegal unterwegs ist. Etwa 15 % aller Akteure (und damit die kleinste Gruppe) malt nur legal.((Rheinberg/Manig (2003): S. 8)) Letztere sind allerdings auch die mit dem größten gesellschaftlichen Engagement und der höchsten medialen Wirksamkeit.((Rheinberg/Manig (2003): S. 17)) Dies wirft die Frage nach der Effizienz institutioneller Angebote auf, wenn nur ein Bruchteil der Adressaten vollständig erreicht wird, der überwältigende Großteil aber weiterhin seiner illegalen Passion nachgeht. | Die Graffiti-Szene stellt sich heute inhomogen dar (was sie bei näherer Betrachtung schon immer war).((Szeneinsider Matze Jung räumt mit der bei Außenstehenden oft verbreiteten Vorstellungen über die verschworene Gemeinschaft der Graffitiszene auf: »Zwar herrscht ein diffuses Bewusstsein der Graffitiszene „an sich“, was darin zum Ausdruck kommt, dass man sich auf einen gemeinsamen Feind, grobe Spielregeln, anerkannte Techniken, prestigeträchtige Maluntergründe und Aktionsorte einigt sowie – bisweilen aus purem Opportunismus – freundschaftliche Kontakte zu anderen Graffitisten pflegt. Eine „Szene für sich“, die einen solidarischen Umgang untereinander pflegt, lässt sich, abgesehen von Ausnahmen vor allem in kleineren Städten, nicht ausmachen, wenngleich dies aus unmittelbaren, egoistischen Gründen naheliegend wäre.« – Jung, Matze: [[https://menetekel.org/publications/tdog/chapter-20-jung|The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – „EACH ONE TEACH ONE“ – ABER WAS DENN EIGENTLICH?]], Abruf am 05.12.2022)) Den mit weit über der Hälfte (ca. 65 %) aller Sprayer mit Abstand größten Anteil stellen Akteure dar, die institutionelle Angebote (legale Wände, Auftragsarbeiten, Vereine, Kunstausstellungen, Kurse etc.) annehmen, jedoch nebenher weiterhin illegal tätig sind. Ca. ein Fünftel der Sprayer ist der Hard-Core-Szene zuzuordnen, die nur illegal unterwegs ist. Etwa 15 % aller Akteure (und damit die kleinste Gruppe) malt nur legal.((Rheinberg/Manig (2003): S. 8)) Letztere sind allerdings auch die mit dem größten gesellschaftlichen Engagement und der höchsten medialen Wirksamkeit.((Rheinberg/Manig (2003): S. 17)) Dies wirft die Frage nach der Effizienz institutioneller Angebote auf, wenn nur ein Bruchteil der Adressaten vollständig erreicht wird, der überwältigende Großteil aber weiterhin seiner illegalen Passion nachgeht. |
[{{ :1469px-dom_pod_przepiorczym_koszem_legnica_rn.jpg?300|Sgraffito, ca. 1565, restauriert 1910, Haus zum Wachtelkorb, Liegnitz}}] | [{{ :1469px-dom_pod_przepiorczym_koszem_legnica_rn.jpg?300|Sgraffito, ca. 1565, restauriert 1910, Haus zum Wachtelkorb, Liegnitz}}] |
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Erst Mitte des 19. Jahrhunderts, im Zuge der neuzeitlichen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit antiken, unautorisiert erstellten Inschriften aus Ägypten, Griechenland und Italien wurde der Begriff "Graffiti" im heutigen Wortverständnis geprägt. Forscher wie Francesco Maria Avellino, Karl Zangemeister, Richard Schöne und Ernst Diehl griffen die Bezeichnung in Anlehnung an die Sgraffito-Kratzputztechnik auf, da die meisten überlieferten, unautorisierten Inschriften gekratzt oder geritzt waren. Der mit Absicht gewählte Bezug zur Erstellungstechnik relativierte sich jedoch mit der Zeit und bald wurden alle nichtoffiziellen Inschriften und Grafiken an den Wänden – unabhängig von der Erstellungstechnik – unter der Sammelbezeichnung Graffiti subsummiert.((Siegl, Norbert: KOMMUNIKATION AM KLO Graffiti von Frauen und Männern, Verlag für Gesellschaftskritik, Wien, 1993, S. 12)) ((Schweikhart, Gunter in: Stahl, Johannes (1989), S.131)) | Erst Mitte des 19. Jahrhunderts, im Zuge der neuzeitlichen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit antiken, unbefugt erstellten Inschriften aus Ägypten, Griechenland und Italien wurde der Begriff "Graffiti" im heutigen Wortverständnis geprägt. Forscher wie Francesco Maria Avellino, Karl Zangemeister, Richard Schöne und Ernst Diehl griffen die Bezeichnung in Anlehnung an die Sgraffito-Kratzputztechnik auf, da die meisten überlieferten anarchischen Inschriften gekratzt oder geritzt waren. Der mit Absicht gewählte Bezug zur Erstellungstechnik relativierte sich jedoch mit der Zeit und bald wurden alle nichtoffiziellen Inschriften und Grafiken an den Wänden – unabhängig von der Erstellungstechnik – unter der Sammelbezeichnung Graffiti subsummiert.((Siegl, Norbert: KOMMUNIKATION AM KLO Graffiti von Frauen und Männern, Verlag für Gesellschaftskritik, Wien, 1993, S. 12)) ((Schweikhart, Gunter in: Stahl, Johannes (1989), S.131)) |
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1967 – in der Entstehungsphase des Style Writing – wurde der bereits existierende Terminus Graffito/Graffiti durch den US-amerikanischen Kunsthistoriker Robert Reisner aufgegriffen und in die englische/amerikanische Sprache als Sammelbegriff für subkulturelle Inschriften an Mauern, Wänden und sonstigen Flächen eingeführt. Von dort fand es dann – in der verengten Bedeutung des American Graffiti – seinen Weg zurück ins Deutsche. George Lucas' Film "American Graffiti" trug 1973 wesentlich zur Erhöhung des Bekanntheitsgrades der Bezeichnung bei.((Kreuzer (1986): S. 128)) | 1967 – in der Entstehungsphase des Style Writing – wurde der bereits existierende Terminus Graffito/Graffiti durch den US-amerikanischen Kunsthistoriker Robert Reisner aufgegriffen und in die englische/amerikanische Sprache als Sammelbegriff für subkulturelle Inschriften an Mauern, Wänden und sonstigen Flächen eingeführt. Von dort fand es dann – in der verengten Bedeutung des American Graffiti – seinen Weg zurück ins Deutsche. George Lucas' Film "American Graffiti" trug 1973 wesentlich zur Erhöhung des Bekanntheitsgrades der Bezeichnung bei.((Kreuzer (1986): S. 128)) |
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Mittlerweile ist in der öffentlichen und auch der wissenschaftlichen Wahrnehmung häufig sowohl eine Einengung als auch eine Erweiterung des klassischen Begriffsverständnisses von Graffiti als unautorisierte grafische Darstellungen zu verzeichnen: Eine Einengung aufgrund der Reduzierung des jahrtausendealten gesellschaftlichen Phänomens auf das relativ junge American Graffiti / Style Writing; eine Erweiterung wegen der Ausdehnung des Begriffs auf viele, anteilig legale Formen von Urban Art, Street Art, Leinwandgraffiti, graffitiähnlichen Auftragsarbeiten und dergleichen. In der Style-Writing-Szene selbst wird der Begriff Graffiti selten genutzt, häufig nur zur Kommunikation mit Außenstehenden. Weltweit verständigen sich die Writer weitgehend unter Nutzung des Vokabulars eines unikalen Graffitijargons, das vollständig von der US-Szene übernommen wurde. | In der öffentlichen und mittlerweile auch der wissenschaftlichen Wahrnehmung ist häufig sowohl eine Einengung als auch eine Erweiterung des klassischen Begriffsverständnisses von Graffiti als unbefugt erstellte grafische Darstellungen zu verzeichnen: Eine Einengung aufgrund der Reduzierung des jahrtausendealten gesellschaftlichen Phänomens auf das relativ junge American Graffiti / Style Writing; eine Erweiterung wegen der Ausdehnung des Begriffs auf viele, anteilig legale Formen von Urban Art, Street Art, Leinwandgraffiti, graffitiähnlichen Auftragsarbeiten und dergleichen. In der Style-Writing-Szene selbst wird der Begriff Graffiti selten genutzt, häufig nur zur Kommunikation mit Außenstehenden. Weltweit verständigen sich die Writer weitgehend unter Nutzung des Vokabulars eines unikalen Graffitijargons, das vollständig von der US-Szene übernommen wurde. |
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Orientiert man sich an den offiziellen Vorgaben zur deutschen Sprache, fällt ins Auge, dass – gemäß der dargestellten historischen Entwicklung des Wortes – zwei sprachliche Ursprünge und drei Bedeutungen des Wortes Graffito/Graffiti aufgeführt werden. Gemäß dem Dudeneintrag "Graffito" entstammt das Wort in drei unterschiedlichen Bedeutungen sowohl dem Italienischen (zu: graffiare = kratzen) als auch dem (US-)Englischen. Demnach wird im Italienischen damit entweder eine "in eine Wand eingekratzte [kultur- und sprachgeschichtlich bedeutsame] Inschrift" oder eine "in eine Marmorfliese eingeritzte, mehrfarbige ornamentale oder figurale Dekoration" bezeichnet. In der englischen Herkunft bedeutet das Wort gemäß Duden hingegen eine "auf Wände, Mauern, Fassaden usw. meist mit Farbspray gesprühte oder gemalte [künstlerisch gestaltete] Parole oder Figur". Grammatikalisch gibt dabei der Duden vor: "der oder das Graffito; Genitiv: des Graffito[s], Plural: die Graffiti".((Duden Online-Wörterbuch, [[https://www.duden.de/rechtschreibung/Graffito|Eintrag "Graffito"]] , Abruf am 07.01.2022)) | Orientiert man sich an den offiziellen Vorgaben zur deutschen Sprache, fällt ins Auge, dass – gemäß der dargestellten historischen Entwicklung des Wortes – zwei sprachliche Ursprünge und drei Bedeutungen des Wortes Graffito/Graffiti aufgeführt werden. Gemäß dem Dudeneintrag "Graffito" entstammt das Wort in drei unterschiedlichen Bedeutungen sowohl dem Italienischen (zu: graffiare = kratzen) als auch dem (US-)Englischen. Demnach wird im Italienischen damit entweder eine "in eine Wand eingekratzte [kultur- und sprachgeschichtlich bedeutsame] Inschrift" oder eine "in eine Marmorfliese eingeritzte, mehrfarbige ornamentale oder figurale Dekoration" bezeichnet. In der englischen Herkunft bedeutet das Wort gemäß Duden hingegen eine "auf Wände, Mauern, Fassaden usw. meist mit Farbspray gesprühte oder gemalte [künstlerisch gestaltete] Parole oder Figur". Grammatikalisch gibt dabei der Duden vor: "der oder das Graffito; Genitiv: des Graffito[s], Plural: die Graffiti".((Duden Online-Wörterbuch, [[https://www.duden.de/rechtschreibung/Graffito|Eintrag "Graffito"]] , Abruf am 07.01.2022)) |
Das "Sgraffito" definiert der Duden als Nebenform von "Graffito".((Duden Online-Wörterbuch, [[https://www.duden.de/rechtschreibung/Sgraffito|Eintrag "Sgraffito"]] , Abruf am 06.10.2022)) | Das "Sgraffito" definiert der Duden als Nebenform von "Graffito".((Duden Online-Wörterbuch, [[https://www.duden.de/rechtschreibung/Sgraffito|Eintrag "Sgraffito"]] , Abruf am 06.10.2022)) |
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Bei näherer Betrachtung trägt der Duden eher zur Verwirrung als zur Aufklärung bei: Abgesehen davon, dass die italienische Kratzputztechnik nicht korrekt beschrieben und der Wesenszug "unautorisiert" nicht erwähnt wird, ist einerseits von "künstlerisch gestaltete Parole oder Figur" die Rede, andererseits wird unter der gleichen Bedeutung der Begriff "Wandschmiererei" verwendet. Weiterhin ist beim Eintrag "Graffito" als Einzahl //Graffito// und als Mehrzahl //Graffiti// zwingend vorgegeben, beim Eintrag "Graffiti" gleicher Bedeutung hingegen als Einzahl //Graffiti// und als Mehrzahl //Graffitis//. Da der Duden für die deutsche Rechtschreibung maßgebend ist, bleibt festzuhalten, dass nach aktueller Deutung als Einzahl //der// //Graffito//, //das// //Graffito// oder //das// //Graffiti// und als Mehrzahl //die// //Graffiti// oder //die// //Graffitis// möglich sind. Der Deutsche Verein für Graffitiforschung empfiehlt //das Graffito// (Einzahl) und //die Graffiti// (Mehrzahl). | Bei näherer Betrachtung trägt der Duden eher zur Verwirrung als zur Aufklärung bei: Abgesehen davon, dass die italienische Kratzputztechnik nicht korrekt beschrieben und der Wesenszug "unbefugt erstellt" nicht erwähnt wird, ist einerseits von "künstlerisch gestaltete Parole oder Figur" die Rede, andererseits wird unter der gleichen Bedeutung der Begriff "Wandschmiererei" verwendet. Weiterhin ist beim Eintrag "Graffito" als Einzahl //Graffito// und als Mehrzahl //Graffiti// zwingend vorgegeben, beim Eintrag "Graffiti" gleicher Bedeutung hingegen als Einzahl //Graffiti// und als Mehrzahl //Graffitis//. |
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| Da der Duden für die deutsche Rechtschreibung maßgebend ist, bleibt festzuhalten, dass nach aktueller Deutung als Einzahl //der// //Graffito//, //das// //Graffito// oder //das// //Graffiti// und als Mehrzahl //die// //Graffiti// oder //die// //Graffitis// möglich sind. |
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| Der Deutsche Verein für Graffitiforschung empfiehlt //**das Graffito**// (Einzahl) und //**die Graffiti**// (Mehrzahl). |
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===== 3. Graffiti und Street Art ===== | ===== 3. Graffiti und Street Art ===== |