Graffiti: Historische Einordnung

Erste Graffiti entstanden vermutlich bereits in der Anfangsphase der kulturellen menschlichen Entwicklung. Die ältesten entdeckten Steinritzungen, die als erste Zeichen menschlichen kulturellen Ausdrucks gelten, lassen sich auf ein Alter von 77.000 Jahre datieren.1)

Im heutigen mitteldeutschen Raum fand vor ca. 35.000 Jahren aus bisher unbekannten Gründen eine „wahre Explosion künstlerischer Ausdrucksformen“ statt. Zwei Bildmotive bestimmten dabei die figürliche Kunst: der weibliche Körper und große Pflanzenfresser. Auch Raubkatzen lassen sich häufig als Motive finden.2) Nachweisbare nachträgliche Änderungen an bestehenden Zeichnungen könnte man dabei spekulativ als erste bekannte vorgeschichtliche Graffiti einordnen.

Zweifelsfrei nachweisen lassen sich Graffiti – im Sinne von unbefugt erstellten grafischen Darstellungen – seit dem Alten Reich im dritten Jahrtausend v. Chr. im Alten Ägypten. Antike Graffiti aus Ägypten, Griechenland und Rom sind vorrangig gekennzeichnet durch Alltagsproblematiken des einfachen Volkes mit meist religiösen, philosophischen, politischen, ökonomischen und sexuellen Inhalten.3)

Das Gastmahl des Belsazar (Rembrandt van Rijn)

Graffiti sind seit je her auch Indikatoren für den Zustand des aktuellen Gesellschaftssystems.4) Sie fungieren gleichsam als Menetekel5) , die als ernste Mahnrufe, unheilverkündende Warnungen und Vorzeichen drohenden Unheils gedeutet werden können.6) 7)

Seit dem Alten Ägypten lässt sich anhand einer Vielzahl erhaltener Graffiti nachweisen, dass diese Art der menschlichen Kommunikation zu allen Zeiten und in allen möglichen Erscheinungsformen stattfand. Vor allen in gesellschaftlich kontroversen Zeit traten Graffiti vermehrt auf, entwickelten sich dabei jedoch bis Ende des 20. Jahrhunderts auf unterschiedlichen Bahnen in vorwiegend abgegrenzten Kulturräumen.

Eine wertvolle und umfangreiche Quelle historischer Graffiti des Römischen Reiches ist Band IV der Sammlung Corpus Inscriptionium Latinarum8). Zu finden sind dort vorwiegend Graffiti aus Pompeji, die durch den Vesuvausbruch im Jahre 79 n. Chr. unter einer Ascheschicht konserviert wurden und dadurch der Nachwelt erhalten blieben. Diese historischen Graffiti geben einen unverfälschten, unverklärten Einblick in die damalige Zeit:

»Wie man einander grüßte und beschimpfte, wie man im Wirtshaus miteinander umging, sein Warten auf die Freundin oder die Kollegin dokumentierte, eine Wand als Abrechnung für Einkäufe nutzte, einen Bordellbesuch schriftlich „nachbereitete“, sein Schulwissen unter Beweis stellte, den in der Arena wie auf dem erotischen Kampfplatz erworbenen Ruhm von Star-Gladiatoren mehrte und wie man, immer aufs neue und in allen Variationen, der Macht Amors huldigte - all das tritt uns ungemein direkt und ungeschminkt, sozusagen als ungefilterte Quelle entgegen: unzensierte Einblicke ins pralle Leben.«9)

Als Werkzeuge nutzten die antiken „Writer“ spitze Griffel aus Eisen, Bronze oder rostigen Nägeln, aber auch Kreide, Kohle und angesengte Holzspäne.10) Antike römische Graffiti wurden häufig in kursiven Großbuchstaben ohne Zeichensetzung erstellt11) und wiesen oft ausufernde kalligrafische Schwünge von Lettern auf, wie man sie auch bei neuzeitlichen Tags sieht. Obwohl das heute in der westlichen Hemisphäre genutzte lateinische Alphabet mittlerweile auch über Kleinbuchstaben verfügt, werden fast alle Tags immer noch in Großbuchstaben geschrieben. Während politische Thematiken – im Sinne von Angelegenheiten der politischen Führung, des Staates und der Verwaltung – durchaus in antiken Graffiti adressiert wurden, sind gesellschaftssystemkritische Inschriften kaum zu finden.12) Weiterhin gibt es keine Hinweise, dass antike Graffiti Bestandteil einer subkulturellen Wettbewerbsbewegung zum Erlangen von Ansehen und Ruhm (vergleichbar der heutigen Style-Writer-Szene) waren.

Wenngleich nach dem Niedergang der antiken Hochkulturen die kreativ-aphoristischen Inhalte der unbefugt erstellten Schriften nie gänzlich verloren gingen, dominierten im öffentlichen Raum dennoch illegale Zeichen, die Machtansprüche und Informationen im kriminellen Milieu zum Inhalt hatten und heute unter den Begriffen Gaunerzinken und Ganggraffiti zusammengefasst werden. Fast ausnahmslos waren diese weltweit vorrangig in Gegenden zu finden, die durch prekäre Lebensverhältnisse gekennzeichnet waren. Sie hatten wenig bis keine systempolitischen Inhalte.

Aufkommende systemkritische Bewegungen der Neuzeit malten hingegen ihre Parolen mit vorrangig politischen Inhalten an die Wände und machten diese zur Massenerscheinung. Als herausragende Beispiele seien hier die Umstürze/Umsturzversuche zum Ende des 1. Weltkrieges in Russland (Oktoberrevolution) und Deutschland (Novemberrevolution), die sozialen Proteste in Brasilien in den 1940/50er Jahren (Pichação-Graffiti), die Bürgerrechtsbewegung in den USA der 1950/60er Jahre sowie die 1968er Bewegung und die daran anknüpfende Sponti-Bewegung der 1970/80er Jahre in Deutschland und anderen europäischen Ländern genannt. Vor allem die Sponti-Bewegung prägte den Wortwitz der unbefugt erstellten Sprüche bis in die heutige Zeit hinein.

Zu allen Zeiten wurden politisch geprägte Widerstandsgraffiti als legitim empfundenes Mittel im Kampf gegen die Besetzung durch fremde Mächte oder sonstige Unterdrückung genutzt. Als prägnantes Beispiel kann hier die Verwendung des "V"-Zeichens in den von Deutschland besetzten Gebieten während des 2. Weltkrieges dienen.

Ende der 1960er Jahre begannen Jugendliche aus prekären Verhältnissen in New York und anderen US-Großstädten ihre Namen mit Stiften an die Wände der Häuser ihrer Wohngegenden zu malen. Sie orientierten sich dabei an den damals weit verbreiteten Ganggraffiti, die zur Abgrenzung von Revieren gegenüber fremden Gangs dienten. Ursprüngliche Motivation war dabei das menschliche Streben, den eigenen Namen an markanten Orten zu hinterlassen, wie es sich seit Jahrtausenden in häufig anzutreffenden Namensgraffiti manifestiert. Die Writer versuchten ihr ausgeprägtes Geltungsbedürfnis durch möglichst viele Hits mit der intrinsischen Botschaft „Ich bin hier! Seht meinen Namen!“ auszuleben. Zur Wahrung der Anonymität und zur Erhöhung der mystischen Aura nutzten sie nicht ihre Klarnamen, sondern verwendeten Pseudonyme, die sie teilweise in Anlehnung an ihre Comic-Helden wählten. Oft fügten sie noch als besonderes Erkennungsmerkmal die Straßennummer ihres Wohnhauses hinzu. Als die Jugendlichen merkten, wie intensiv die Öffentlichkeit und die Medien ihre unbefugt erstellten Zeichen reflektierten, erhöhten sie die Schlagzahl, breiteten sich bald über die gesamte Stadt aus und verschonten dabei auch die öffentlichen Verkehrsmittel als ideales Verbreitungsmedium nicht. Die ersten Writer fanden immer mehr Nachahmer, die Spraydose wurde als passendes Handwerkszeug entdeckt und ein Wettbewerb um die meisten, größten und spektakulärsten Hits an den ausgefallensten Orten entbrannte. Es genügte bald nicht mehr, einfach seinen Namenszug zu verbreiten, sondern kalligrafisch gestaltete Tags und aufwändige (Master)Pieces mit Konturen, Schatten, Reflexion u. dgl. waren angesagt. Immer neue Stilrichtungen der Buchstabengestaltung kamen auf und später wurden die Schriftzeichen durch meist comicartige Bildelemente ergänzt. Damit war das Style Writing (heute oft auch als Szene-Graffiti, American Graffiti oder schlicht Graffiti adressiert) geboren, das sich als subkulturelle kompetitive Erscheinung bald über das gesamte Land und später die gesamte Welt ausbreitete und aktuell die weltweit dominante Erscheinungsform von Graffiti ist und eine globale Massenbewegung verkörpert.13)

Die politischen Graffiti der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung hatten zweifellos eine gewisse Katalysatorfunktion für die Entstehung des Style Writing. Dennoch ist es ein Mythos, dass das Hauptziel der neuen Bewegung die Abschaffung eines verhassten und benachteiligenden Gesellschaftssystems war. Gewiss suchten die Jugendlichen aus abgedrängten sozialen Schichten einen Weg, ihre empfundene und faktische Benachteiligung durch das etablierte System zu artikulieren und zu überwinden. Es ging ihnen jedoch nicht vorrangig um einen Systemwandel. Vielmehr beneideten sie das System um Ruhm und Erfolg, die es konformen Menschen bot. Gleichzeitig hassten sie es, da sie wussten, dass sie selbst niemals zu diesen Privilegierten gehören würden. Deshalb schufen sie nach dem Vorbild des existierenden ihr eigenes subkulturelles System, in dem sie glaubten jenseits der etablierten Ordnung zu Ruhm und Anerkennung zu gelangen. Moritz Klein formuliert dies treffend wie folgt:

»Graffiti [im Sinne von Style Writing] ist nichts anderes als eine Spielart des „American Dream“: Statt vom Tellerwäscher zum Millionär wird man im „System Graffiti“ vom anonymen Nobody zum anonymen Untergrundstar. Egal, wer du bist und woher du kommst, jeder kann es schaffen, durch Fleiß und harte Arbeit. Dieses egalitäre Leistungsprinzip ist das amerikanische Erbe im Graffiti. Jeder kann mitmachen, aber wenn Du scheiterst, bekommst Du kein Mitleid. Jeder ist seines eigenen Fames Schmied.«14)

Außenstehende sind oft überrascht, wenn sie erfahren, wie stark ausgeprägt der Konkurrenzkampf, das Streben um Anerkennung und Ruhm sowie die hierarchische Abgrenzung im Style Writing sind. Insider reden oft von „kapitalistischen“ Strukturen und Prinzipien innerhalb der Szene. Dabei verkennen sie, dass das Streben, besser zu sein und mehr zu haben als andere, wohl weniger in einem Gesellschaftssystem sondern viel mehr in der menschlichen Natur angelegt ist. Oliver Kuhn formuliert dies leicht überspitzt wie folgt:

»Graffiti stimmt ein in das Geschrei der urbanen Zeichen – der Zeichen des Konsums bzw. der Wirtschaft, der Ideologie und der Politik. Während diese Zeichen die gleichsam herrisch-erwachsene Sprache des Geldes oder der Macht sprechen, spricht Graffiti die kindliche Sprache des Trotzes und der Aufsässigkeit. Es rebelliert gegen die Welt der Erwachsenen, aber nicht, weil es sie abschaffen, sondern weil es deren Privilegien haben will.«15)

Seit ihrer Entstehung gibt es immer wieder Versuche, die Style-Writing-Bewegung mit einer altruistisch-romantischen Glorifizierung und Legitimierung zu verklären. Frühe Bildbände von Martha Cooper und Henry Chalfant trugen wesentlich zu dieser Verklärung bei.16) 17) In der Tat entsteht beim Durchblättern von Subway Art für den unbedarften Leser der Eindruck, die Graffiti-Szene sei eine familiäre Gemeinschaft, in deren Rahmen sich 3 Uhr nachmittags Paare aus der Nachbarschaft beim Kaffeekränzchen treffen und dabei die Aktivitäten für den mitternächtlichen Volkshochschul-Spraykurs im U-Bahn-Depot absprechen. Solche Verklärungen wirken bis heute nach. Dabei wird verdrängt, dass Style Writing vom Wesen her eine rein auf Selbstdarstellung angelegte kompetitive Erscheinung mit teilweise egozentrischer und egomanischer Ausrichtung ist. Szenemitglied Sandra Rummler beschreibt dies aus ihrer Sicht so:

»Es ging von Anfang an nur um FAME, um mich selbst, meinen Namen und Wettbewerb (Battle). Gerade diese egomane Klarheit fand ich lange befreiend. Das sich diese Tatsache für mich irgendwann als ziemlich banal und erschöpfend herausstellte, ist eine andere Geschichte.«18)

Bis zum weltweiten Siegeszug des American Graffiti in den 1980er Jahren entwickelte sich die Graffitiszene regional in unterschiedlichen soziokulturellen Bahnen und war im Wesentlichen durch politische Graffiti und Widerstandsgraffiti gekennzeichnet. Deshalb muss Versuchen, die Prägung des Style Writing in der Entstehungsphase auch anderen Entwicklungssträngen – beispielsweise den brasilianischen Pichação der 1940/50er Jahre – zuzuschreiben, widersprochen werden.19) Unbenommen davon bleibt die korrekte Feststellung, dass sich die Weiterentwicklung des Style Writing nach der weltweiten Verbreitung lokal und temporär in durchaus unterschiedlichen Entfaltungs- und Stilrichtungen vollzog.20)

Graffiti (in der verkürzten Bedeutung des Style Writing) werden nach vorherrschender wissenschaftlicher Ansicht der Hip-Hop-Subkultur zugeordnet. Obwohl diese Zuordnung eher akademischer Natur ist, bestehen unübersehbare Gemeinsamkeiten mit den anderen originären Hip-Hop-Domänen Rap, Scratching (DJing) und Breakdance, die um die 1970er Jahre in den USA jenseits der etablierten Ordnung und Kultur durch Jugendliche aus prekären Gesellschaftsschichten geschaffen wurden. Alle Bestandteile des Hip-Hop sind kompetitive, vorrangig jugendliche Kommunikationsformen und kopieren anteilig kulturelle Elemente der etablierten Ordnung. Style Writing steht dabei für die kalligrafisch gemalte Schrift, Rap für das harmonisch gesprochene Wort, Scratching für die rhythmisch verfremdete Musik und Breakdance für den akrobatisch bewegten Körper. Die wesentliche Besonderheit von Style Writing im Hip-Hop-Vergleich ist, dass die unbefugt erstellten Zeichen üblicherweise mit Eigentumsrechten im öffentlichen oder privaten Raum kollidieren. Ändern sie dabei „das Erscheinungsbild einer fremden Sache [oder einer Sache mit öffentlichem Interesse] nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend“, erfüllen Sie nach deutschem Recht den Straftatbestand der Sachbeschädigung / Gemeinschädlichen Sachbeschädigung und sind illegal.

Alle Hip-Hop-Domänen konnten sich einer Vermarktung und anteiligen Vereinnahmung durch das etablierte System nicht entziehen. Eine gewisse Sonderstellung nimmt dabei das Style Writing ein, da illegal gemalte Tags, Throw-Ups und Pieces sich meist nicht gezielt und unter Beteiligung des Writers vermarkten lassen.21) Der schwedische Writer Tobias Barenthin Lindblad berichtet aus eigener Erfahrung:

»Ein Piece oder Tag verkauft nichts. Nicht einmal sich selbst. Es hat sich von allen Hiphop-Elementen als am schwersten zu verkaufen erwiesen.«22)

Auch wenn sich ein illegales Piece nur schwer direkt vermarkten lässt, haben findige Geschäftsleute in den USA schnell erkannt, dass der inspirativ-anrüchige Spirit von Graffiti eine hervorragende Geschäftsgrundlage darstellt. Bereits in den frühen 1970er Jahren begann dort eine gnadenlose Kommerzialisierung von Graffiti. In den 1980er Jahren kam die Vermarktungswelle auch in Europa und Deutschland an. Johannes Stahl schreibt dazu mit sarkastischem Unterton:

»Seit die Graffiti ins Bewußtsein einer größeren Öffentlichkeit gedrungen sind, haben sich Werbe- und Modeindustrie mit Gründlichkeit des Themas angenommen. […] für Kofferradios, Jugendmode und Polstermöbel warb man mit gesprühten Botschaften. […] Eine leibhaftige Bundesgesundheitsministerin sprühte – noch recht ungelenk – „Ohne Rauch geht's auch“ auf eine Werbefläche, während in der Stadt Köln das Graffiti-Design für die Kampagne „Rettet die Liebe Stoppt Aids“ geeignet erschien. […] Eine Schweizer Radiosendung nannte sich ebenso wie zahllose Jugendboutiquen „Graffiti“, Reiseunternehmen warben mit ihrem Graffiti-Bus. […] Die Landessparkasse rief einen Wettbewerb „Sprüche und Graffiti für eine bessere Umwelt“ aus […] – zweifellos eine sinnvolle Maßnahme, um künftige Eigenheimbesitzer zu werben. Nachdem der Graffiti-Duschvorhang zum Selbermachen erfunden war, war selbstverständlich auch abzusehen, daß es ein Kinderwagenmodell „Graffiti“ geben würde.«23)

Ein gänzlich anderer Vermarktungsstrang von Graffiti beruht auf deren unbefugter Natur und der daraus folgenden Kollision mit dem Eigentumsrecht oder öffentlichem Interesse. Auch mit der Beseitigung, Abschwächung und Prävention von Graffiti lässt sich Geld verdienen, wie aus der nicht unerheblichen Anzahl von Firmen, die entsprechende Dienste und technische Lösungen anbieten, geschlossen werden kann.

Mit der Null-Toleranz-Politik und der konsequenten Bekämpfung illegaler Graffiti in New York und anderen Städten in den 1970/80er Jahren sahen einige bereits ein Ende der jungen Bewegung. Tatsächlich sagte die New Yorker Metropolitan Transportation Authority den unbefugt bemalten U-Bahn-Waggons mit einem „War on Graffiti“ in den 1970er Jahren den gnadenlosen Kampf an und erklärte am 12. Mai 1989 – mit dem Herausholen des letzten bemalten Zuges – die Stadt für sauber. Viele Beobachter, aber auch Sprayer selbst, sagten den nahenden Untergang des Style Writing voraus.24) Neben der kompromisslosen Bekämpfung illegaler Graffiti durch staatliche und private Ordnungskräfte wurden die ersten staatlichen Präventionsprojekte aufgestellt. Sozialarbeiter organisierten mit staatlicher Förderung Interessenvertretungen, Ausstellungen, Leinwandverkäufe und legale Aufträge. Ziel war es, die Writer durch Ersatzaktivitäten von den Wänden und U-Bahnen weg zu holen und in das etablierte gesellschaftliche System zu integrieren.25)

Als mögliches Mittel im Kampf ums Überleben des Style Writings wurde von Teilen der Szene dabei die Flucht unter den kon­s­ti­tu­ti­o­nell geschützten Schirm der etablierten Kunst erkannt (→ Hauptartikel: Graffiti und die Freiheit der Kunst ). Die Annäherung von Graffiti-Szene und etablierter Kunst fand dabei beidseitig statt, wenngleich letztere – in der Suche nach neuen Inspirationen – zweifellos die treibende Kraft darstellte.26) Viele Akteure engagierten sich vermehrt in (legalen) Leinwand-Graffiti-Ausstellungen und anderen Street-Art-Aktivitäten. Teile der Szene lehnten diese Annäherung an die etablierte Kunst vehement ab, da sie darin eine Aufgabe ihres Wesenskerns und die Gefahr der Assimilierung durch das gesellschaftliche System sahen. Josef Streichholz beschreibt die damalige Situation wie folgt:

»Besonders mit Sidney Janis‘ Ausstellung Post-Graffiti 1983 […] verband sich die Behauptung, dass Graffiti nun eine legitime Kunst-Bewegung unter anderen sei, die als nächsthöhere Stufe das überwand und obsolet machte, was ihr auf den Subways und Straßen vorangegangen war. […] Verkauft wurden zwar individuelle Arbeiten, die aber für die Kunstwelt kaum mehr waren als bloße Träger des symbolischen Kapitals der Straßenbewegung. […] Der korrupte Zustand vielseitiger Instrumentalisierbarkeit und Affirmativität von Graffiti […] ist historisch sehr früh eingetreten; noch bevor Graffiti seine inzwischen fast globale Erfolgsgeschichte begann.«27)

Weiter schreibt er zum damaligen Verhältnis von Graffiti und Kunst aus heutiger Sicht treffend:

»Vieles am Verhältnis der beiden Szenen von Kunst und Graffiti war wechselseitiges Missverständnis, aber nicht alles. Die Graffitibewegung hatte der Kunst in jenen Jahren mit spielerischer Leichtigkeit vorgeführt, was diese erhoffte, aber nicht zu verwirklichen schaffte: eine kreative Praxis mit den denkbar geringsten Zugangsschranken, untrennbar verwoben mit dem Lebensalltag; ein Modell von unentfremdeter Produktivität, das in seiner radikalen Selbstverantwortlichkeit ohne den Zwang zur Mehrwertschöpfung in der Tat ein subversives Moment innewohnt. […] Graffiti hat ohne politische Agenda, quasi als Idiot, das erreicht, was avantgardistische Ansätze oder die alternativen Kunstszenen nicht konnten und nie erreichen werden. Ein subversives Moment wohnt Graffiti also auch im Verhältnis zur Kunst inne: Solange diese die Verbindung zu Galerien, Museen und Kunst als Beruf zu erhalten versucht, bleibt sie zwingend und eng gebunden an die ökonomischen Strukturen ihres gesellschaftlichen Milieus. Die ökonomischen Potentiale der Kunst bleiben Graffiti so natürlich verwehrt.«28)

In der Tat übt das aufsässig-anarchische Element von Graffiti eine magische Anziehungskraft auf Teile der etablierten Kunstszene aus. Andererseits üben die Möglichkeiten und Ressourcen, über die die etablierte Kunstszene verfügt, eine magische Anziehungskraft auf Teile der Graffiti-Szene aus. Jedoch ist eine Assimilation in beide Richtungen nicht möglich, ohne dass der assimilierte Teil seine Wesenszüge aufgibt. Viele Akteure der Graffiti-Szene erkennen bewusst oder fühlen zumindest instinktiv, dass die Einverleibung ins gesellschaftliche Korsett der etablierten Kunst ihren Untergang bedeuten würde. Selbst wenn sie die gebotenen Möglichkeiten vermeintlich gerne annehmen, achten sie stets auf ausreichend Distanz.

In der Retrospektive stellt sich die Frage, wie aus einer anfangs wenig innovativen, massenhaften Kopierung einer seit Jahrtausenden vorhandenen kulturellen Erscheinung, eine dominante globale Bewegung werden konnte? Die Einfachheit der Antwort verblüfft: Weil sie als (anarchische) Kommunikations- und Wettbewerbsform im gegebenen sozioökonomischen und soziokulturellen Umfeld extrem wirksam war und noch immer ist. Oder verständlicher: Weil sie durch die richtigen Personen am richtigen Ort und zur richtigen Zeit begründet wurde.

Um die Jahrtausendwende erreichte die gesellschaftliche Kontroverse um Graffiti in Deutschland einen vorläufigen Höhepunkt. Getriggert war diese Kontroverse durch ein seit Jahren andauerndes Ansteigen der durch die Polizei erfassten Sachbeschädigungsdelikte durch Graffiti. Alarmierte Bürger riefen das politische System auf den Plan. Auf dessen Druck hin wurden die Strafverfolgungsbehörden sensibilisiert. In vielen Großstädten wurden Sondereinheiten der Polizei zur Graffiti-Bekämpfung etabliert. Jedoch blieb die Verurteilungsquote der Täter weit hinter den erfassten Delikten zurück. Dies lag zum Teil daran, dass die Gerichte oft keine Handhabe sahen, die Sprayer nach geltender Rechtslage zu verurteilen. Einen Strafgesetzparagrafen „Graffiti“ gab es nicht (und gibt es bis heute nicht) und die beiden Sachbeschädigungsparagrafen waren meist nicht hinreichend anwendbar. Die Hauptgründe für die geringe Anzahl an Verurteilungen lagen jedoch in der niedrigen Aufklärungsquote und im Sachverhalt, dass die Mehrzahl der wenigen ermittelten Täter sich im Jugendalter befand. Damit fielen sie unter das Jugendstrafrecht, das sogenannte Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel und keine Freiheitsstrafen vorsieht. Dennoch wurde von großen Teilen des gesellschaftlichen Systems eine Verschärfung des Strafgesetzes gefordert.

Dies war auch die Blütezeit von Anti-Graffiti-Vereinen, die auf das bürgerschaftliche Engagement bei der Bekämpfung und Folgenbeseitigung illegaler Graffiti setzten. Als prominentester Vertreter ist hier der Berliner Verein „NOFITTI“29) zu nennen, der seit 1994 tätig war und es immerhin schaffte, 2005 und 2006 internationale Anti-Graffiti-Kongresse in Berlin unter Beteiligung einflussreicher politischer Prominenz durchzuführen.30) Beispielhaft seien hier Angela Merkel, Klaus Wowereit, Wolfgang Bosbach, Hans Christian Ströbele und Søren Pind (Bürgermeister von Kopenhagen) genannt.

Erfasste Fälle von Sachbeschädigung durch Graffiti in Deutschland

Volksvertretungen, politische Parteien und Verwaltungen waren in dieser Zeit sehr aktiv in ihren Bemühungen zur Bekämpfung illegaler Graffiti. Bundesländer, Kreise und Gemeinden erließen „Graffiti-Gefahrenabwehrverordnungen“ bzw. ergänzten ihre bestehende Verordnungen mit Blick in Richtung Graffiti.31) Politische Parteien brachten Gesetzesinitiativen zur „Bekämpfung des Graffiti-Unwesens“ ein,32) Verwaltungen entwickelten eifrig Konzepte zur Graffitiprävention und „Anti-Graffiti-Mobile“ – eine Art „Feuerwehr“, die auf Anforderung schnellstmöglich illegale Graffiti beseitigt – wurden eingesetzt.

Die politischen Aktivitäten führten im Jahr 2005 zu einer Ergänzung der Sachbeschädigungsparagrafen des Strafgesetzbuches (§§ 303, 304 StGB). Bestraft werden kann nun, wer das Erscheinungsbild einer fremden Sache oder einer Sache mit öffentlichem Interesse nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend unbefugt verändert. Eine explizite Aufnahme des Begriffs „Graffiti“ in den Straftatbestand – wie von einigen gefordert – erfolgte nicht. Nach der Strafrechtsverschärfung stieg die Anzahl der erfassten Fälle von Sachbeschädigung und Gemeinschädlicher Sachbeschädigung bis zur Änderung der statistischen Erfassung im Jahre 2008 weiter stark an und pegelte sich ab 2013 in der Größenordnung von ca. 100.000 Delikten pro Jahr (und damit weit über der Anzahl im Jahr 2000) in Deutschland ein. Die Aufklärungsquote erreichte 2010 einen Spitzenwert von 25,4% und sank bis 2023 auf den vorläufig niedrigsten Wert von 13,5%. Die Anzahl nichtdeutscher Tatverdächtiger betrug 2011 8,4% und stieg bis 2023 auf 13,1% an. Während im Zeitraum von 2013 bis 2023 die Anzahl der Tatverdächtigen um mehr als 20% angestiegen ist, sank im gleichen Zeitraum der Anteil der weiblichen Tatverdächtigen leicht von 12,4% auf 10,1% 33)

Alarmiert durch die gesellschaftliche Kontroverse um Graffiti und motiviert durch die diesbezüglichen politischen Aktivitäten wandte sich auch die institutionelle Forschung der Problematik zu. Während im nichtinstitutionellen Bereich seit vielen Jahren wenige Enthusiasten sehr aktiv in der Thematik unterwegs sind, war – außer von einigen kulturwissenschaftlichen Disziplinen – aus dem institutionellen Hochschul- und Universitätsbetrieb dazu nichts Nennenswertes zu vernehmen. Dem Zeitgeist der Jahrtausendwende ist es zu verdanken, dass damals wissenschaftliche Studien zu Graffiti durchgeführt wurden, die auch integrativ-interdisziplinäre soziologische und psychologische Ansätze verfolgten. Zu nennen sind hier eine Motivationsstudie der Universität Potsdam34) und eine soziologischen Studie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg35) .

Martin Papenbrock beschreibt die damalige Situation wie folgt:

»Im Zuge der Popularisierung und Ausbreitung der Graffiti-Bewegung sind auch die Künste und die Wissenschaften auf das Thema aufmerksam geworden […] Seit Beginn der 1990er-Jahre ist eine zunehmende Professionalisierung der Graffiti-Szene festzustellen […] Vor dem Hintergrund der gestiegenen Akzeptanz des Graffiti breitete sich die Bewegung während der frühen 1990er-Jahre in Deutschland sehr stark aus. Die Polizei versuchte diese Entwicklung durch die Einrichtung von Ermittlungsgruppen einzudämmen, was zunächst auch gelang. Nachdem die ersten dieser Gruppen dann personell wieder reduziert oder ganz aufgelöst wurden, entstand in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre eine neue Welle, die später sogar den Gesetzgeber auf den Plan rief und zu einer Ergänzung von § 303 StGB führte […]«36)

Die heutige gesellschaftliche und teilweise auch wissenschaftliche Wahrnehmung von Graffiti wird durch die jugendkulturelle Erscheinung Szene-Graffiti, die direkt aus dem Style Writing hervorging, dominiert.37) Sie ist gekennzeichnet durch globale Vernetzung über illegale Aktivitäten hinaus bis hinein in etablierte politische, künstlerische und industrielle Kreise.

Ab den 2010er Jahren nahmen die politischen Aktivitäten kontra Graffiti in Deutschland wieder ab. Die meisten Sondereinheiten der Polizei zur Graffitibekämpfung wurden aufgelöst, Anti-Graffiti-Vereine stellten ihre Tätigkeit ein und viele Anti-Graffiti-Mobile fahren nicht mehr. Graffiti (oder präziser: als Graffiti wahrgenommene Werke) als anteilig kommerzialisierte Kunstform erlangten – zumindest in Teilen der Gesellschaft – Akzeptanz. Kreativität und Esprit von Graffiti begeistern heute zunehmend selbst bildungsnahe, systemkonforme Menschen, die – auf der Suche nach neuen Erlebnissen und Erfahrungen, gelegentlich auch zur Überwindung von Langeweile – Graffiti als Inspirationsquelle mit wohlig-anrüchiger Aura für sich entdecken und sich in unautorisierten Banksy-Ausstellungen gegenseitig die Klinke in die Hand geben. Auch die Sprayer selbst rekrutieren sich mittlerweile aus ausnahmslos allen Schichten der Gesellschaft. Handwerker verdienen mit Graffitibeseitigung und -prävention ihre Brötchen und gereifte Sprayer bieten ihre Dienste zur legalen Verschönerung von Hausgiebeln an. Graffitiausstatter verkaufen offiziell Spraydosen, Marker und sonstiges Handwerkszeug für den legalen und illegalen Gebrauch. Sozialisierte Aussteiger der illegal tätigen Graffiti-Szene und nachwachsende Graffiti-Mäzenen der etablierten Kunst38) gründen Interessenvertretungen, die als Körperschaften des öffentlichen Rechts staatlich gefördert werden und – auf der Jagd nach legalen Flächen und Auftragsarbeiten – einen Rückgang illegaler Graffiti versprechen. Volkshochschulen bieten Graffiti-Handwerkskurse an, in denen dem jugendlichen Nachwuchs von 30-/40-jährigen Veteranen beigebracht wird, wie der Pfeil korrekt am Buchstabenabschwung gesetzt wird.39) Oberbürgermeister outen sich als Graffiti-Freunde und legen bei der Einweihung der städtischen Wall of Fame auch gern mal selber Hand an, verstehen dann jedoch die Welt nicht mehr, wenn das berühmteste Kulturdenkmal der Stadt mit Tags aller Couleur „verziert“ wird. Selbst Hard-Core-Writer scheuen sich mittlerweile nicht mehr, medienwirksam die Umwandlung von ihnen beanspruchter Flächen in legale Wände und „Disneyland-Billboards“ zu kritisieren und in diesem Kontext auf die Zerstörung ihrer (unbefugt erstellten) Werke und den Verlust ihres natürlichen Lebensraums hinzuweisen. Auch beklagen Teile der Szene die zunehmende Anzahl von Toys40), insbesondere an kulturhistorisch wertvollen Objekten. Dies diskreditiere die gesamte Szene, die sich größtenteils an Tabu-Kodexe halte.

Generell ist im Kontext des aktuellen Zeitgeists und dessen Fokussierung auf die Befindlichkeiten gesellschaftlicher Randgruppen eine spürbare Zunahme des Selbstbewusstseins und der Aktivitäten der originären, unbefugt tätigen Graffitiszene zu verzeichnen. Obwohl formal zweifellos größtenteils illegal unterwegs, fordert diese Gruppe öffentlichkeitswirksam die gesellschaftliche Anerkennung ihrer Stellung als kulturelle Singularität ein. Insbesondere wird in diesem Zusammenhang jegliche Kommerzialisierung von Graffiti durch (legale) Auftragsarbeiten im Rahmen von Street Art, Urban Art, aber auch Werbung oder politische Propaganda abgelehnt. Anbiederungsversuche von Staat, etablierter Kunst und Wirtschaft (bezahlte Flächengestaltung, Promotion von Immobilien, legale Flächen, Kunst- und Verkaufsausstellungen, Graffitikurse u. a.) werden skeptisch gesehen. Nicht selten werden dabei – im zeitgeistlichen Jargon – Vorwürfe bezüglich kultureller Aneignung41), Artwashing42), Cultural Camouflage43) und Sellout44) laut. Oft manifestiert sich die Ablehnung der Hard-Core-Szene im illegalen Übermalen oder Zerstören von legal erstellten „Graffiti“, insbesondere auf Flächen, welche die illegale Szene für sich beansprucht.

Eine neue Dimension nicht nur der Kommerzialisierung von Graffiti, sondern auch der kommerziellen Ausbeutung der Szeneakteure, wird erreicht durch Graffiti-Promotion neuer, hochpreisiger Immobilien, die alte, oft verfallene Bauten im urbanen Raum der Großstädte ersetzen sollen. Vor Errichtung der neuen Immobilie wird dabei die alte, abzureißende für Graffitiakteure unter gewissen Vorgaben freigegeben und medienwirksam als Kunstprojekt vermarktet. Hauptziel der Bauherren ist dabei die Erhöhung der Akzeptanz und der Vermarktungschancen ihrer späteren Neubauten im schwierigen, oft gentrifizierten urbanen Umfeld. Ähnliche Projekte gibt es, um die Akzeptanz bereits bestehender Immobilien zu erhöhen. Die meist finanziell klammen Szeneakteure sind oft auf die Einnahmen aus solchen Tätigkeiten angewiesen.45) Die tatsächliche Bezahlung für teilweise künstlerisch hochwertige Werke liegt dabei oft unter dem, was ein Handwerker für das Weißen der Fläche verlangen würde.46)

Der Siegeszug der heute allgegenwärtigen Smartphones mit hochauflösenden Multitouch-Displays und vollwertigen Kameras, der Ausbau der mobilen Datenverbindungen, das Web 2.0 und die neuen sozialen Medien erlaubten – mit einem Griff in die Hosentasche – eine vollkommen neue Qualität der bildlichen Kommunikation und Vernetzung. Viele Style Writer und sonstige graffitinahe Akteure im Bereich Urban Art nutzen die neuen Medien zur Erstellung, Dokumentation, Verbreitung und Vermarktung ihrer Werke. Während gedruckte Graffiti-Magazine oft nach wenigen Ausgaben ihre Produktion einstellen und generell anzahlmäßig abnehmen, ist das Internet mittlerweile von Szene-Graffiti-Webseiten überschwemmt. Im Kontext politische Graffiti muss festgestellt werden, dass die Möglichkeiten der Teilhabe aller Bürger an der politischen Meinungsbildung durch Petitionsportale, Foren, soziale Netzwerke, Kommentarfunktionen und sonstige basisdemokratischen Zugeständnisse (zumindest formal) erheblich erweitert wurden. Trotz der neuen digitalen Möglichkeiten, der erweiterten Teilhabe an der politischen Meinungsbildung und der Annäherungsversuche von Graffiti und Kunst hat sich die Hoffnung mancher, die gesetzlosen Zeichen würden vollständig oder zumindest größtenteils in den virtuellen Raum des Internets und der sozialen Medien abwandern oder sich in die etablierte Kunstszene integrieren, nicht erfüllt. Ein Gang durch die Straßen unserer Großstädte und die offiziellen Zahlen der Kriminalstatistik offenbaren unmissverständlich, dass nur wenige Graffiti-Akteure den urbanen Raum als unbefugt genutzten Tätigkeitsbereich gänzlich aufgegeben haben und entstehende Lücken vollständig durch Nachwuchs geschlossen werden. Die unbefugt bemalten Wände waren, sind und bleiben auf absehbare Zeit der originäre Lebensraum von Graffiti.

Die Graffiti-Szene stellt sich heute inhomogen dar (was sie bei näherer Betrachtung schon immer war).47) Den mit weit über der Hälfte (ca. 65 %) aller Sprayer mit Abstand größten Anteil stellen Akteure dar, die institutionelle Angebote (legale Wände, Auftragsarbeiten, Vereine, Kunstausstellungen, Kurse etc.) annehmen, jedoch nebenher weiterhin illegal tätig sind. Ca. ein Fünftel der Sprayer ist der Hard-Core-Szene zuzuordnen, die nur illegal unterwegs ist. Etwa 15 % aller Akteure (und damit die kleinste Gruppe) malt nur legal.48) Letztere sind allerdings auch die mit dem größten gesellschaftlichen Engagement und der höchsten medialen Wirksamkeit.49) Dies wirft die Frage nach der Effizienz institutioneller Angebote auf, wenn nur ein Bruchteil der Adressaten vollständig erreicht wird, der überwältigende Großteil aber weiterhin seiner illegalen Passion nachgeht.

Bis heute haben Graffiti ihre klassische Erscheinung als anarchische Kommunikationsform nicht verloren. Diese manifestiert sich quantitativ vorrangig in Zeiten starker gesellschaftlicher Kontroversen.50) Darüber hinaus unterliegt das zahlenmäßige Aufkommen von Graffiti als disputable neuzeitliche Kunstform einem zeitlichen Auf und Ab, vergleichbar einer Modewelle.

Wände, Mauern und vor allem Häuserfassaden bedeutender Städte waren in der Antike, im Mittelalter und bis in die Neuzeit hinein wesentlich stärker durch Bemalung, Ornamente und sonstige Dekore geprägt, als es sich aus dem heutigen Sichtwinkel erschließt. Private und öffentliche Einzelpersonen oder Vereinigungen wetteiferten – ihrem Repräsentations- und Geltungsbedürfnis folgend – um die schönsten und spektakulärsten Blickfänge. Auch behördliche Auflagen zur Verschönerung der Stadt trugen das Ihre bei. Noch heute ist vor allem südlich der Alpen die Vielzahl bemalter und sonstig gestalteter Fassaden unübersehbar.51)

Als handliches und wetterbeständiges Verfahren zur Fassadendekoration kam bereits im 14. Jahrhundert in Italien eine Technik unter dem Namen „sgraffito“ oder auch unter dem Synonym „graffito“ auf. Dabei wird auf die Wand zunächst ein dunkler Putz aus gelöschtem Kalk und Sand aufgetragen. Darauf wird eine weiße – gelegentlich mit Sand vermengte – Kalkschlämme aufgebracht. Auf dieser helleren Schicht wird das spätere Bild von Hand oder mit Hilfsmitteln skizziert oder vorgeritzt. Letztlich wird mit einem Kratzeisen oder Spachtel die obere, helle Kalkschicht entfernt, sodass die gewünschte grafische Darstellung in einem dunkleren Ton mit rauer Oberfläche zum Vorschein kommt. In den nachfolgenden Jahrhunderten verbreitete sich diese Technik über die Alpenländer hinaus bis nach Böhmen und Schlesien.52) Die flächenmäßig größten europäischen Sgraffiti wurden durch italienische Künstler im 16. Jahrhundert am Dresdner Hof erstellt.53) Der Fürstenzug auf der Außenwand des Stallhofs in der Dresdner Augustusstraße wurde ursprünglich als Sgraffito in Kratzputztechnik ausgeführt (nach Verwitterung später in Fliesen aus Meißner Porzellan erneuert) und war mit 101 m Ausdehnung das längste bekannte Sgraffito der Welt.54)

Sgraffito, ca. 1565, restauriert 1910, Haus zum Wachtelkorb, Liegnitz

Erst Mitte des 19. Jahrhunderts, im Zuge der neuzeitlichen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit antiken, unbefugt erstellten Inschriften aus Ägypten, Griechenland und Italien wurde der Begriff „Graffiti“ im heutigen Wortverständnis geprägt. Forscher wie Francesco Maria Avellino, Karl Zangemeister, Richard Schöne und Ernst Diehl griffen die Bezeichnung in Anlehnung an die Sgraffito-Kratzputztechnik auf, da die meisten überlieferten anarchischen Inschriften gekratzt oder geritzt waren. Der mit Absicht gewählte Bezug zur Erstellungstechnik relativierte sich jedoch mit der Zeit und bald wurden alle nichtoffiziellen Inschriften und Grafiken an den Wänden – unabhängig von der Erstellungstechnik – unter der Sammelbezeichnung Graffiti subsummiert.55) 56)

1967 – in der Entstehungsphase des Style Writing – wurde der bereits existierende Terminus Graffito/Graffiti durch den US-amerikanischen Kunsthistoriker Robert Reisner aufgegriffen und in die englische/amerikanische Sprache als Sammelbegriff für subkulturelle Inschriften an Mauern, Wänden und sonstigen Flächen eingeführt. Von dort fand es dann – in der verengten Bedeutung des American Graffiti – seinen Weg zurück ins Deutsche. George Lucas' Film „American Graffiti“ trug 1973 wesentlich zur Erhöhung des Bekanntheitsgrades der Bezeichnung bei.57)

In der öffentlichen und mittlerweile auch der wissenschaftlichen Wahrnehmung ist häufig sowohl eine Einengung als auch eine Erweiterung des klassischen Begriffsverständnisses von Graffiti als unbefugt erstellte grafische Darstellungen zu verzeichnen: Eine Einengung aufgrund der Reduzierung des jahrtausendealten gesellschaftlichen Phänomens auf das relativ junge American Graffiti / Style Writing; eine Erweiterung wegen der Ausdehnung des Begriffs auf viele, anteilig legale Formen von Urban Art, Street Art, Leinwandgraffiti, graffitiähnlichen Auftragsarbeiten und dergleichen. In der Style-Writing-Szene selbst wird der Begriff Graffiti selten genutzt, häufig nur zur Kommunikation mit Außenstehenden. Weltweit verständigen sich die Writer weitgehend unter Nutzung des Vokabulars eines unikalen Graffitijargons, das vollständig von der US-Szene übernommen wurde.

Orientiert man sich an den offiziellen Vorgaben zur deutschen Sprache, fällt ins Auge, dass – gemäß der dargestellten historischen Entwicklung des Wortes – zwei sprachliche Ursprünge und drei Bedeutungen des Wortes Graffito/Graffiti aufgeführt werden. Gemäß dem Dudeneintrag „Graffito“ entstammt das Wort in drei unterschiedlichen Bedeutungen sowohl dem Italienischen (zu: graffiare = kratzen) als auch dem (US-)Englischen. Demnach wird im Italienischen damit entweder eine „in eine Wand eingekratzte [kultur- und sprachgeschichtlich bedeutsame] Inschrift“ oder eine „in eine Marmorfliese eingeritzte, mehrfarbige ornamentale oder figurale Dekoration“ bezeichnet. In der englischen Herkunft bedeutet das Wort gemäß Duden hingegen eine „auf Wände, Mauern, Fassaden usw. meist mit Farbspray gesprühte oder gemalte [künstlerisch gestaltete] Parole oder Figur“. Grammatikalisch gibt dabei der Duden vor: „der oder das Graffito; Genitiv: des Graffito[s], Plural: die Graffiti“.58)

Unter dem Eintrag „Graffiti“ weist der Duden unter Verweis auf die dritte Bedeutung von „Graffito“ folgende Herkunft aus: „englisch graffiti = Wandbild, Wandschmiererei, eigentlich Plural von graffito, zu italienisch graffiato = 2. Partizip von: graffiare = kratzen“. Grammatik: „das Graffiti; Genitiv: des Graffiti[s], Plural: die Graffitis“.59)

Das Wort „Graffito“ wurde erstmals 1980 in den Wortschatz des Rechtschreibdudens aufgenommen und gehört zu den rechtschreiblich schwierigen Wörtern, da es nicht, wie oft fälschlicherweise angenommen, mit -tt-, sondern mit -ff- geschrieben wird.60) In diesem Zusammenhang sei auf den ehemaligen Berliner Anti-Graffiti-Verein Nofitti und die von Axel Thiel herausgegebene Heftreihe Einführung in die Grafitti-Forschung verwiesen.61) 62)

Das „Sgraffito“ definiert der Duden als Nebenform von „Graffito“.63)

Bei näherer Betrachtung trägt der Duden eher zur Verwirrung als zur Aufklärung bei: Abgesehen davon, dass die italienische Kratzputztechnik nicht korrekt beschrieben und der Wesenszug „unbefugt erstellt“ nicht erwähnt wird, ist einerseits von „künstlerisch gestaltete Parole oder Figur“ die Rede, andererseits wird unter der gleichen Bedeutung der Begriff „Wandschmiererei“ verwendet. Weiterhin ist beim Eintrag „Graffito“ als Einzahl Graffito und als Mehrzahl Graffiti zwingend vorgegeben, beim Eintrag „Graffiti“ gleicher Bedeutung hingegen als Einzahl Graffiti und als Mehrzahl Graffitis.

Da der Duden für die deutsche Rechtschreibung maßgebend ist, bleibt festzuhalten, dass nach aktueller Deutung als Einzahl der Graffito, das Graffito oder das Graffiti und als Mehrzahl die Graffiti oder die Graffitis möglich sind.

Der Deutsche Verein für Graffitiforschung empfiehlt das Graffito (Einzahl) und die Graffiti (Mehrzahl).

Street Art entstand als Versuch, die Illegalität des Style Writing zu überwinden und somit die Tätigkeiten der Graffitiakteure in gesetzeskonforme Bahnen zu lenken. Erste Street-Art-Aktivitäten (wenn auch damals noch nicht explizit so genannt) kamen mit dem Anwachsen des Style Writing zur Massenerscheinung auf und lassen sich bereits Ende der 1960er, spätestens Anfang der 1970er Jahre in US-Großstädten nachweisen. Die Initiative solcher Aktivitäten geht in der Regel von städtischen Behörden oder graffitiaffinen Teilen der etablierten Kunst aus. Während gereifte und vorgeblich geläuterte Szeneaussteiger/-veteranen sich durchaus aufgeschlossen für Street Art zeigen, wird diese vom Hard-Core-Anteil der Szene vehement abgelehnt, da darin die Selbstaufgabe des eigenen Wesenskerns und die Assimilierung in die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen gesehen wird. Inhaltlich geht es bei Street Art meist um die genehmigte (zumindest aber geduldete), oft auch beauftragte und bezahlte künstlerisch-malerische Gestaltung öffentlich einsehbarer Flächen im urbanen Raum mit graffitiähnlichen Darstellungen. Während das ursprüngliche Style Writing auf kalligrafisch gestalteter Schrift basiert, dominiert bei Street Art meist der bildliche Anteil in den Darstellungen. Obwohl sich Street Art inspirativ weitgehend an Graffiti orientiert64), umfasst sie weitere künstlerische Ausdrucksformen, die über Graffiti im engeren Sinne hinausgehen.

Wenngleich Street Art durchaus als Kind von Graffiti bezeichnet werden kann und beide im visuellen Erscheinungsbild sehr ähnlich sein können, unterscheiden sie sich doch im Hauptwesensmerkmal fundamental. Während Graffiti eine nichtassimilierbare anarchische Kommunikationsform verkörpert, die sich bewusst jenseits der gesellschaftlich etablierten Normen positioniert, stellt Street Art eine Kunstform der Gestaltung des urbanen Raums dar, die sich – äußerlich an das Erscheinungsbild von Graffiti anlehnend – bewusst zumindest ansatzweise den gesellschaftlichen Normen unterwirft65). Während vom äußerlichen visuellen Erscheinungsbild eine präzise Differenzierung zwischen Graffiti und Street Art oft nicht möglich ist, lässt sich somit bei Kenntnis des Entstehungskontexts jedes Werk eindeutig entweder der Kategorie Graffiti oder der Kategorie Street Art zuordnen. Da der Entstehungskontext sich für Außenstehende nicht ohne Weiteres erschließt, werden umgangssprachlich und im medialen Sprachgebrauch die Begriffe Graffiti und Street Art aufgrund der visuellen Ähnlichkeit oft unzulässigerweise als Synonyme genutzt oder undifferenziert als sinnverwandte Worte gebraucht.


1)
Henshilwood, Christopher S. et al.: Emergence of modern human behavior: Middle Stone Age engravings from South Africa, Science, 10 Jan 2002, Vol. 295, Issue 5558, S. 1278-1280
2)
Exponat im Landesmuseum für Vorgeschichte, Halle (Saale), Besuch am 20.01.2024
3)
vgl. Hoffmann, Friedhelm: Ägypten, Kultur und Lebenswelt in griechisch-römischer Zeit, Akademie-Verlag, Berlin, 2000
4)
Selbst Szeneinsider verneinen diesen Indikatoreffekt jenseits der jugendkulturellen Erscheinung nicht: »Es wäre schier ungerecht all die Herausforderungen und negativen Symptome, die für mich eher einer Zeit und der darin so oder so stattfindenden persönlichen Entwicklung geschuldet sind, einer (jugend-)kulturellen Erscheinung zuzuschreiben. […] Graffiti ist und bleibt eine Reaktion auf die Gesellschaft, es ist abhängig von ihr. Dementsprechend kann das Spektrum auch breit und plump ausfallen. Jede Generation hat ihre Sprüher.« – Alexander, David: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – ES DARF NICHT DIR GEHÖREN, Abruf am 10.12.2022
5)
Nach biblischer Überlieferung erschien dem übermütigen babylonischen Kronprinz Belšazar bei einem Fest die Inschrift מנא מנא תקל ופרסין – məne’ məne’ təqel ûfarsîn (mögliche Übersetzung aus dem Aramäischen: gezählt, gewogen, zerteilt), die er nicht deuten konnte. Daniel, ein herbeigerufener Weiser, deutete die Inschrift als Voraussagung des baldigen Endes der Herrschaft Belšazars und seines Todes. Ein Menetekel gilt seitdem als Inbegriff drohenden, nicht abwendbaren Unheils.
6)
Kreuzer, Peter: Das Graffiti-Lexikon: Wand-Kunst von A bis Z, Heyne, München, 1986, S. 217 ff.
7)
vgl. „Graffiti sind Menetekel“ – Interview mit dem Ästhetik-Professor Bazon Brock: DER SPIEGEL 45/1999, Abruf am 15.11.2022
8)
Schöne, Richard / Zangemeister, Karl Friedrich Wilhelm: Corpus Inscriptionium Latinarum - Band IV, apud G. Reimerum, Berolini, 1871
9)
Weeber, Karl-Wilhelm: Decius war hier, Artemis und Winkler, Düsseldorf und Zürich, 2000, S. 10
10) , 12)
Weeber (2000): S. 12
11)
Weeber (2000): S. 13
13)
zur Geschichte der Graffitibewegung vgl. Kreuzer (1986): S. 107 ff.
16)
Cooper, Martha / Chalfant, Henry: Subway Art, Thames and Hudson, London, 1984
17)
Chalfant, Henry / Prigoff, James : Spraycan Art, Thames and Hudson, London, 1987
19)
vgl. jedoch: Hartmann, Frank: The Death of Graffiti (digitale Online-Version) – GRAFFITI ZOMBIES, Abruf am 20.11.2022
20)
»Das Interessante an der Graffitibewegung ist, dass sie sich in jeder Stadt anders entwickelt. Es ist, als ob die physischen und kulturellen Eigenheiten der Stadt die Graffiti prägen.« – Lindblad, Tobias Barenthin: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – TOD UND LEBEN VON GRAFFITI, Abruf am 23.11.2022
21)
Eine der wenigen Ausnahmen stellen hier Werke von Banksy, Blek le Rat und einigen weiteren Künstlern dar, die teilweise aus der Wand herausgemeißelt oder geschnitten werden, um sie dann (ohne Beteiligung des Künstlers) zu vermarkten.
23)
Stahl, Johannes: An der Wand. Graffiti zwischen Anarchie und Galerie, DuMont, Köln, 1989. S. 91
24)
Lady Pink, eine berühmte Graffiti-Künstlerin mit dem bürgerlichen Namen Sandra Fabara, schuf 1982 das Leinwand-Bild „The Death of Graffiti“, das aktuell im Indianapolis Museum of Art at Newfields ausgestellt wird. Dabei zeigt sie eine nackte Frau, die auf einer Müllhalde aus Spraydosen stehend auf einen weißen U-Bahn-Waggon zeigt, dem ein mit ihrem Pseudonym bemalter Waggon folgt.
25)
»Es waren staatlich unterstützte, sozialpädagogische Integrationsprojekte wie die United Graffiti Artists oder später die Nation of Graffiti Artists, die im Rahmen von Stadtteilarbeit Writer versammelten und erste Ausstellungen organisierten. Leinwandverkäufe und Aufträge sollten die kreativen Energien der jugendlichen Writer weg von den Subways und in legale Bahnen lenken. […] Es ist also durchaus berechtigt zu sagen, dass die früheste Verknüpfung von Graffiti und Kunst im engeren Sinne […] im Zeichen sozialpädagogischer Armuts- und Kriminalitätsbekämpfung stattfand.« – Streichholz, Josef: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – GRAFFITI ALS SCHLAUER IDIOT, Abruf am 11.12.2022
26)
»Umso interessanter wird natürlich der Umstand, dass Kunstinstitutionen wie Artists Space ihre Türen für Graffiti öffneten. Je mehr Aufregung die gebombten Subways in der städtischen Öffentlichkeit erregten, desto interessanter wurde die Bewegung für diese gerade entstehende, alternative Kunstszene der Stadt. […] Dass Graffiti in sich hierarchisch und seinem Zweck nach egoistisch war, wurde auch damals schon klar gesehen. Beim Kunstkritiker Peter Schjeldahl, der einen Text für das kleine Katalogheft zur Ausstellung verfasste, fand die „elitist and egocentric new form of expression“ gerade deshalb Anerkennung, weil sie Kunsttheorien oder antielitären Prinzipien nicht gehorche und stilistische Individualität zum absoluten Zweck erhebe.« – Streichholz, Josef: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – GRAFFITI ALS SCHLAUER IDIOT, Abruf am 11.12.2022
29)
N O F I T T I – Verein zur Rettung des Berliner Stadtbildes e. V.
30)
vgl.: Henning, Karl (Hrsg.): NOFITTI 2005 - Erster Internationaler Anti-Graffiti-Kongress Berlin, Universitätsverlag der TU Berlin, Berlin, 2005 und Henning, Karl (Hrsg.): NOFITTI 2006 - Zweiter Internationaler Anti-Graffiti-Kongress Berlin, Universitätsverlag der TU Berlin, Berlin, 2006
31)
vgl.: Graffiti-Gefahrenabwehrverordnung des Landes Sachsen-Anhalt, Link zur Deutschen Digitalen Bibliothek, Abruf am 01.12.2022
32)
vgl.: Dringlicher Antrag der Fraktion der FDP betreffend Bekämpfung des Graffiti-Unwesens in HessenLink zum Dokument, Abruf am 01.12.2022
33)
Polizeiliche Kriminalstatistik des BKA, Grundtabelle 2013, Tabelle ZR 2023 und Tabelle BU 2023, Abruf am 20.05.2024
34)
Rheinberg, Falko u. Manig, Yvette: Was macht Spaß am Graffiti-Sprayen? Eine induktive Anreizanalyse, in: Report Psychologie. - 28 (2003), 4, S. 222 - 234, 2003
35)
Sackmann, Reinhold et al.: Graffiti kontrovers - Die Ergebnisse der ersten mitteldeutschen Graffitistudie, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale), 2009
36)
Papenbrock, Martin / Tophinke, Doris (2018): Graffiti digital. Das Informationssystem Graffiti in Deutschland (INGRID). In: Zeithistorische Forschungen, https://zeithistorische-forschungen.de/1-2018/id=5571 , Abruf am 20.01.2022
37)
»Die dominierende Form der Gegenwart ist das Szene-Graffiti, eine jugendkulturelle und überwiegend illegale Erscheinung, deren Ästhetik durch Sprühdose und Farbstift geprägt ist. Es hat seinen Ursprung in der amerikanischen Graffiti-Kultur der 1960er- und 1970er-Jahre […] Als Teil der Hip-Hop-Bewegung wurde die amerikanische Graffiti-Kultur im Laufe der 1980er-Jahre zu einem globalen Phänomen […]« – Papenbrock, Martin / Tophinke, Doris (2018): Graffiti digital. Das Informationssystem Graffiti in Deutschland (INGRID). In: Zeithistorische Forschungen, https://zeithistorische-forschungen.de/1-2018/id=5571 , Abruf am 20.01.2022
38)
Tobias Barenthin Lindblad bemängelt, dass sich die etablierte Kunst schwer tut, das Wesen von Graffiti jenseits von Kunst zu erkennen und macht als Ursache dafür die fehlende wissenschaftliche Aufarbeitung von Graffiti aus: »Kurz nach dem Durchbruch vom Punk kamen die ersten wissenschaftlichen Theorien darüber. Nach fast fünfzig Jahren gibt es immer noch keine entwickelte Theorie über Graffiti. Dies mag der Grund sein, warum die zeitgenössische Kunst es so verzweifelt schwer hat, Graffiti zu verstehen. Gleichzeitig ist es sicher, wie Jacob Kimvall sagt, dass die Kunst Graffiti eher braucht als umgekehrt. Der Graffitibewegung geht es auf eigene Faust ganz gut.« – Lindblad, Tobias Barenthin: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – TOD UND LEBEN VON GRAFFITI, Abruf am 23.11.2022
39)
Matze Jung weist als Insider auf die altruistische Verklärung der Graffitiveteranen hin: »[…] die „alten Hasen“ sind in der Regel mächtig stolz darauf, dass sie „die Kultur weiterreichen an die nächste Generation“ und sich so verdient machen um das Fortbestehen von beispielsweise „Respekt“ als zentralem Moment innerhalb der Szene. Ansonsten bleibt es meist dabei, dass die Jüngeren gezeigt bekommen wie man die Pfeile richtig an die Buchstaben bastelt, dass Streetart minderwertig ist und der vielbeschworene „Respekt“ eben doch Ausnahmen kennt.« Jung, Matze: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – „EACH ONE TEACH ONE“ – ABER WAS DENN EIGENTLICH?, Abruf am 05.12.2022
40)
Als Toy wird im Graffitijargon ein minderwertiges Graffito oder auch ein Anfänger oder unbegabter Akteur bezeichnet.
41)
Bemängelt wird, dass der originäre Begriff „Graffiti“ als anarchische, gesetzestrotzende Botschaft auch für beauftragte, meist bezahlte und sonstige genehmigte Werke beansprucht wird, die – wenn überhaupt – lediglich äußerliche Ähnlichkeiten mit Graffiti aufweisen.
42)
Nutzung von Kunst zur Legitimierung eines ansonsten negativ besetzten Sachverhalts, häufig im Kontext von Gentrifizierung.
43)
Verschleierung negativ besetzter gesellschaftlicher Aspekte als positive kulturelle Erscheinung. Ähnlich wie Artwashing oft im Kontext von Gentrifizierung genutzt.
44)
(Überhand nehmende) Tätigkeiten der Graffitiszene gegen Bezahlung, oft aus finanziellen Nöten. Bemängelt wird, dass dabei ein Ausverkauf des originär anarchischen, kommerzverachtenden Wesens von Graffiti erfolgt.
45)
Jenz Steiner, der mit 13 anfing zu malen, zeigt als gereifter 38jähriger Writer Verständnis und Gelassenheit gegenüber solchen Erscheinungen: »Manche verdienen Geld mit Graffiti. Inzwischen finde ich das auch okay, da ich weiß, dass Graffiti gegen alles mögliche resistent ist, gegen Kommerzialisierung, Strafverfolgung, Spießertum, was auch immer. Graffiti wandelt immer mal wieder sein Gesicht, ist Gegenkultur, Teil und Spiegel der Gesellschaft gleichermaßen.« – Steiner, Jenz: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – EIN LEBENDIGER TEIL VON MIR, Abruf am 20.11.2022
46)
Der Rundfunk Berlin-Brandenburg beleuchtet im Beitrag Dose gegen Goliath – Killt Kommerz Kunst? vom 19.07.2023 solche Praktiken anhand mehrerer Beispiele aus Berlin Link zum Video
47)
Szeneinsider Matze Jung räumt mit der bei Außenstehenden oft verbreiteten Vorstellungen über die verschworene Gemeinschaft der Graffitiszene auf: »Zwar herrscht ein diffuses Bewusstsein der Graffitiszene „an sich“, was darin zum Ausdruck kommt, dass man sich auf einen gemeinsamen Feind, grobe Spielregeln, anerkannte Techniken, prestigeträchtige Maluntergründe und Aktionsorte einigt sowie – bisweilen aus purem Opportunismus – freundschaftliche Kontakte zu anderen Graffitisten pflegt. Eine „Szene für sich“, die einen solidarischen Umgang untereinander pflegt, lässt sich, abgesehen von Ausnahmen vor allem in kleineren Städten, nicht ausmachen, wenngleich dies aus unmittelbaren, egoistischen Gründen naheliegend wäre.« – Jung, Matze: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – „EACH ONE TEACH ONE“ – ABER WAS DENN EIGENTLICH?, Abruf am 05.12.2022
48)
Rheinberg/Manig (2003): S. 8
49)
Rheinberg/Manig (2003): S. 17
50)
»Es sind übrigens Repressionen und Polizei, Kriege und Besatzung durch fremde Mächte, die diesen Prozess der Signalisierung beträchtlich beschleunigen.« – Baudrillard, Jean: KOOL KILLER oder Der Aufstand der Zeichen, Merve Verlag, Berlin, 1978, S. 33
51)
Schweikhart, Gunter in: Stahl, Johannes: An der Wand. Graffiti zwischen Anarchie und Galerie, DuMont, Köln, 1989, S.128
52)
Schweikhart, Gunter in: Stahl, Johannes (1989), S.129
53)
Das Dresdner Schloss erhält neue Sgraffiti: Beitrag von wa.de, 22.11.2010, Link zum Beitrag, abgerufen am 30.10.2023
54)
Stallhof und Fürstenzug: dresden.de, Link zur Webseite, abgerufen am 30.10.2023
55)
Siegl, Norbert: KOMMUNIKATION AM KLO Graffiti von Frauen und Männern, Verlag für Gesellschaftskritik, Wien, 1993, S. 12
56)
Schweikhart, Gunter in: Stahl, Johannes (1989), S.131
57)
Kreuzer (1986): S. 128
58) , 60)
Duden Online-Wörterbuch, Eintrag "Graffito" , Abruf am 07.01.2022
59)
Duden Online-Wörterbuch, Eintrag "Graffiti" , Abruf am 07.01.2022
61)
Die Welt, Nofitti-Chef tritt nach 36 Jahren aus der CDU aus , veröffentlicht am 03.05.2006, Abruf am 11.01.2022
62)
Heftreihe Einführung in die Grafitti-Forschung Eintrag bei der Deutschen Nationalbibliothek , Abruf am 11.01.2022
63)
Duden Online-Wörterbuch, Eintrag "Sgraffito" , Abruf am 06.10.2022
64)
Dies ist nicht verwunderlich, sind die Akteure doch oft dieselben, nur in unterschiedlichen Schaffensphasen. Während Graffiti eine vorwiegend jugendliche Domäne von nichtsozialisierten Teenagern ist, sind Street-Art-Akteure meist gereifte ehemalige Sprayer, die einen gewissen Sozialisierungs- und Familisierungsprozess durchlaufen haben, ihre ursprüngliche illegale Passion aber nicht gänzlich aufgeben wollen oder aus gewissen Zwängen nicht aufgeben können. Ein ehemaliger Szenesprayer drückt es sarkastisch überzogen so aus: »Viele alternde Kings und solche, die sich dafür [halten], sterben entweder früh, oder kommen irgendwann mit dem Zerreißen der Rechnungen ihres realen Lebens nicht mehr nach. Hier liegt es doch auf der Hand, Kohle mit dem zu machen, was man am besten kann. Man muss sich die Sache nur schön [reden] und auch so verkaufen. Und schon wird aus dem rebellierenden Kid ein malender Spießer[, der sich] Street-Art-Künstler [nennt]. Ich will die gar nicht verurteilen – hatte selbst so eine Phase.« – 7616/NVD, Interview im Clash, Berlin, 2018
65)
Dies bedeutet nicht, dass Street Art per se legal und Graffiti per se illegal sind. Jedoch dominiert bei Street Art der Gedanke zur künstlerischen Gestaltung des urbanen Raums mit wohlgefälligen Darstellungen, der bei Graffiti vernachlässigbar ist oder höchstens am Rande steht.
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  • von graffitaro