Graffitiforschung auf akademischem Niveau ist seit je her geprägt durch wenige Enthusiasten, die einsam und beharrlich – oft naserümpfend von ihren „Kollegen“ beäugt – sich der Thematik annahmen. Die Ursprünge der neuzeitlichen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Graffiti im deutschsprachigen Raum lassen sich Mitte des 19. Jahrhunderts datieren, als Forscher wie Francesco Maria Avellino, Karl Zangemeister, Richard Schöne und Ernst Diehl sich mit antiken, illegitim erstellten Inschriften aus Ägypten, Griechenland und Italien beschäftigten und für diese die Bezeichnung „Graffiti“ übernahmen.1) Schöne und Zangemeister veröffentlichten 1871 ein umfangreiches Sammelwerk lateinischer Inschriften2) in dem akribisch gesammelte und aufwändig aufbereitete historische Wandinschriften aus Vesuvstädten, vor allem Pompeji, zu finden sind.3)
Eine Renaissance erfuhr die Forschung mit dem Aufwuchs von Style Writing zur globalen Bewegung und Massenerscheinung in den 1980er Jahren. Als herausragende Persönlichkeiten der empirischen Graffitiforschung der ersten Stunde sind hier Axel Thiel und Norbert Siegl zu nennen, denen die akademische Adelung jedoch versagt blieb.
Weitgehende akademische Anerkennung fanden die Arbeiten von Johannes Stahl und Peter Kreuzer, die in den 1980er Jahren den Kontakt zur aufkommenden deutschen Szene suchten und einen wesentlichen Teil ihrer Erkenntnisse aus Feldforschungen erlangten.4)
In der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit sind im Bereich der akademischen Graffitiforschung im deutschsprachigen Raum Martin Papenbrock5) und Doris Tophinke6) als Projektleitung und Mentoren sowie Sven Niemann7) als treibende Kraft des Informationssystems Graffiti in Deutschland (INGRID), zu nennen, die eine kunst- bzw. sprachgeschichtliche Herangehensweise verfolgen. Reinhold Sackmann8), Professor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, widmet sein Schaffen anteilmäßig der Graffitiforschung und wählt dabei einen soziologischen Annäherungsweg.
Jenseits der oben Genannten findet eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Phänomen Graffiti weitgehend sporadisch statt und ist auf erwähnenswertem Niveau in einer überschaubaren Anzahl akademischer Abschlussarbeiten (Dissertationen, Diplomarbeiten etc.), Studien, Projekten, Fachbüchern und -beiträgen zu finden.
Mittlerweile haben sich die Kulturwissenschaften die Deutungshoheit über das Forschungsobjekt Graffiti angeeignet. Dies liegt möglicherweise an einer zunehmenden Verengung – der ursprünglich breiter aufgestellten Wahrnehmung von Graffiti – auf kulturelle Aspekte, die mit dem Siegeszug des American Graffiti seit Ende der 1980er Jahre einhergeht.9) Während innerhalb der Kulturwissenschaften multidisziplinäre Ansätze durchaus erkennbar sind, ist echte Interdisziplinarität10), d. h. die integrative Zusammenführung aller relevanten Disziplinen von Kultur-, Sozial- und Humanwissenschaft unter Wahrung der gebotenen akademischen Neutralität, schlichtweg nicht existent. Dadurch wird der Umgang mit dem gesellschaftlichen Phänomen Graffiti weitgehend Akteuren überlassen, die sich polarisierend entweder eindeutig pro oder eindeutig kontra Graffiti positionieren und sich dabei eher an weltanschaulichen und subjektiven Positionen als an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren.
Auffällig ist, dass es vielen Forscherinnen und Forschern schwer fällt, die gebotene akademischen Neutralität konsequent durchzuhalten, was sich in einer, zumindest subtilen, Parteinahme meist pro, seltener kontra Graffiti äußert. Im Bereich Kulturwissenschaften ist dabei fast ausnahmslos eine Akzeptanz von Graffiti zu verzeichnen, während in Teilen der Sozialwissenschaften (vor allem Rechtswissenschaft und Verwaltungswissenschaft) die Ablehnung überwiegt. Ebenfalls bleibt festzustellen, dass fast alle Veröffentlichungen sich lediglich mit Teilaspekten der sehr komplexen Thematik auseinandersetzen, wobei meist ein kunst- oder sprachwissenschaftlicher analytischer Annäherungsweg gewählt wird. Aus dieser Einengung heraus lässt sich möglicherweise erklären, dass viele Autoren daran scheitern oder sich scheuen, eine allgemeingültige Definition des Begriffs Graffiti aufzustellen. Ohne eine klare Definition als Basis wird jedoch eine seriöse analytische Annäherung kaum möglich sein. Zu sozialpsychologischen Themen, die bspw. Motivationsmechanismen von Graffiti betreffen, kam die Forschung nie über zaghafte Versuche hinaus.11)12) Bis heute gibt es dazu im deutschsprachigen Raum keine repräsentative Erhebung.
Für eine Auflistung von wissenschaftlichen Publikationen zur Thematik siehe den Hauptartikel Graffiti: Medienverzeichnis.
Der erste erwähnenswerte Versuch einer umfassenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Phänomen Graffiti im deutschsprachigen Raum war die Heftreihe „Einführung in die Grafitti-Forschung“13), die durch Axel Thiel (* 1945, † 2006) von 1983 bis 1996 in insgesamt 22 Heften herausgegeben wurde (heute vollständig nur noch in wenigen Bibliotheken öffentlich verfügbar). Die meisten Beiträge stammen von Thiel selbst. Darüber hinaus ist dort ein umfangreiches Sammelsurium von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, Beiträgen Dritter, Lexika, Graffitiabbildungen und Schriftwechseln Thiels mit Hochschulen, Verwaltungen, Polizei und sonstigen Behörden und Institutionen zu finden. Das Gesamtwerk macht einen etwas ungeordneten und unstrukturierten Eindruck, beinhaltet jedoch verstreut eine große Anzahl wertvoller Beiträge, die eine wissenschaftliche Aufbereitung wert sind. Ein Auszug aus Thiels Schaffen ist noch als (schwer verständliche) englische Übersetzung auf der Webpräsenz „Art Crime“ zu finden.14)
Mangels Interesse der etablierten Medien verlegte Thiel seine Heftreihe selbst. Mit der Gründung der „Arbeitsgruppe Psychosoziale Probleme und Visuelle Kommunikation / International Work Group on Graffiti Research“ versuchte er mit mäßigem Erfolg seine Forschungsaktivitäten zu institutionalisieren und international aufzustellen. Thiel kämpfte jahrelang um die Zulassung seiner Dissertation zum Thema Graffiti, scheiterte aber letztlich.
Auch wenn Thiels Arbeiten und Ansichten nicht immer ins Normenkorsett der etablierten akademischen Forschung passten, war er doch der Erste im deutschsprachigen Raum, der die Kommunikationsfunktion und den wesentlichen Einfluss von sozialpsychologischen Faktoren bei der Entstehung von Graffiti benannte. Dafür gebührt ihm ein nichtübersprühbarer Namenszug, oder besser: ein uncrossable tag, an der Wall of Fame der Graffitiforschung.
Zu Thiels Tod veröffentlichte Norbert Siegl einen Nachruf, der tiefe Einblicke in die Persönlichkeit des Verstorbenen gibt:
»Hier in Wien waren wir weitaus nicht mit allen Thiel'schen Aktivitäten einverstanden, besonders die von ihm propagierte Schreibweise „GRAFITTI“ löste allgemeines Befremden aus und es schlossen sich dieser nur sehr uninformierte Leute an. Später kehrte er wieder zur üblichen Schreibweise zurück. Wir bewunderten Thiel's Beharrlichkeit und Konsequenz, mit der er „SEINE“ GRAFITTI-FORSCHUNG über die Jahrzehnte verfolgte. Unbeirrbar verteidigte er seinen Ansatz, unbeirrbar beharrte er auf „SEINEN“ Auffassungen von Wissenschaftlichkeit. Seine frühen Publikationen hatten weitreichende Bedeutung. Es gelang ihm, mit seinem Axel-Thiel-Verlag, eine Art Integrations-Edition zu gründen und - Jahre vor den ersten Fancines - ein Fachorgan der Graffiti-Forschung herauszugeben. In seiner „EINFÜHRUNG IN DIE GRAFITTI-FORSCHUNG“ publizierten nach und nach viele wichtige Leute dieses Gebietes. Und damit wurde das Bewusstsein einer fachlichen Zusammengehörigkeit geschaffen - ein großer Verdienst von ihm.«15)
Peter Kreuzer, ein Münchner Professor für Volkskunde im Ruhestand, schrieb 1986 das erste deutschsprachige Graffiti-Lexikon.16) Es beruht auf detaillierten Szenekenntnissen und setzt bis heute Maßstäbe in Umfang, Inhalt und Qualität. Martin Papenbrock schrieb dazu treffend:
»So war das Buch für Sprüher und für Außenstehende, insbesondere für solche, die sich um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Graffiti bemühten, gleichermaßen von Interesse.«17)
Obwohl sich Kreuzer eindeutig pro Graffiti positioniert, vermeidet er die in der Szene oft anzutreffende Glorifizierung, die bspw. bei Martha Cooper18) deutlich beobachtet werden kann.
Der Kunsthistoriker Johannes Stahl19) widmete in den 1980er Jahren einen Großteil seines Schaffens der aufkommenden Graffitithematik und ist dieser bis heute noch immer verbunden. 1988 schloss er seine Dissertation „Graffiti: zwischen Alltag und Ästhetik“20) ab. 1989 gab er ein Sachbuch unter dem Titel „An der Wand. Graffiti zwischen Anarchie und Galerie“21) heraus. Basierend auf umfangreicher Feldforschung zeichnen sich vor allem Stahls frühe Werke durch ausgezeichnete Szenekenntnisse aus.
Norbert Siegl ist ein in Wien lebender Fotograf, Psychologe und Kommunikationswissenschaftler, der sein Schaffen seit 1976 der empirischen Graffitiforschung und -dokumentation gewidmet hat.22) Er veröffentlichte mehrere Fachbücher und Schriften mit wissenschaftlicher Würdigung der Thematik. Beispielhaft wären hier eine Analyse von Graffiti in öffentlichen Toiletten23) und eine Graffiti-Enzyklopädie24) zu nennen.
Auf der Basis des von ihm angelegten Wiener Graffiti-Archivs gründete er 1996 das Institut für Graffiti-Forschung (ifg). Das ifg ist eine „Vereinigung von Wissenschaftlern, Künstlern und interessierten Laien“. Es fungiert nach eigenem Anspruch als „Dachorganisation der wissenschaftlichen Graffiti-Forschung und erstreckt seinen Tätigkeitsbereich auf die ganze Welt“.25)
Norbert Siegl hat mittlerweile seine aktive Schaffensphase im Rahmen der Graffitiforschung beendet.
An der Universität Potsdam wurde Anfang der 2000er Jahre eine nichtrepräsentative sozialpsychologische Erhebung zum Thema Motivation der Graffitiersteller von Falko Rheinberg26) und Yvette Manig durchgeführt, deren Ergebnisse 2003 veröffentlicht wurden.27) Dies ist die einzige hier bekannte empirische wissenschaftliche Untersuchung im deutschsprachigen Raum, die sich mit rein motivationalen Aspekten von Graffiti befasst. Dabei wurden beantwortete Fragebögen von 294 Akteuren der Graffitiszene aus dem Raum Berlin/Potsdam und anderen deutschen Städten ausgewertet. Auf die Ergebnisse wird im Hauptartikel Graffiti: Ursachen und Motivation detaillierter eingegangen. Methodisch bedingt werden in der Studie nur Anreize erfasst, über die sich die Akteure selbst bewusst sind und die sie zugeben wollen. Die Autoren erkennen an, dass möglicherweise weitere wesentliche Motivationen existieren, über die sich die Befragten entweder nicht bewusst sind oder die sie nicht preisgeben möchten.
An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg wurden 2006/2007 zwei Lehrforschungsprojekte zum Thema Graffiti unter Leitung von Reinhold Sackmann durchgeführt. Als Untersuchungsgebiet wurden die Städte Halle, Leipzig, Dresden und Merseburg gewählt. Die Ergebnisse der Projekte wurden unter dem Titel „Graffiti kontrovers - Die Ergebnisse der ersten mitteldeutschen Graffitistudie“28) veröffentlicht. Durch die Form der Veröffentlichung als Beitragssammlung leidet leider die Übersichtlichkeit - eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse aller Beiträge wäre hier geboten gewesen.
Die Studie ist insgesamt ein bemerkenswerter Versuch des neutralen, interdisziplinären Herangehens an die Problematik mit Einbindung der Sprüher, Hausbesitzer, staatlichen Akteure sowie der Öffentlichkeit. In diesem Kontext ist der Ansatz der Studie, ungeachtet einiger methodischen Schwächen, das mit Abstand Beste, was bislang im deutschsprachigen Raum zu finden ist.
Erste Ergebnisse der o. g. Studie wurden von Reinhold Sackmann bereits 2006 in einer Beitragssammlung in „Der Hallesche Graureiher“ unter dem Titel „Graffiti zwischen Kunst und Ärgernis: empirische Studien zu einem städtischen Problem“29) herausgegeben. Sie enthält zwei Beiträge und ein Fazit des Herausgebers, die später in „Graffiti kontrovers“ nicht mehr erscheinen und scheint subtil eher kontra Graffiti ausgerichtet zu sein.
Das Informationssystem Graffiti in Deutschland (INGRID) ist ein gemeinsames Projekt der Universität Paderborn und des Karlsruher Instituts für Technologie. Inhalt und Ziel von INGRID sind, Graffiti in einer Bilddatenbank zu erfassen, analytisch zu erschließen und für weiterführende Forschungen bereitzustellen.
INGRID erhebt keine eigenen Bilddaten, sondern führt bereits existierende, nutzbare Datenbestände in einer zentralen Datenbank zusammen. Als Hauptquellen werden dabei im Zuge polizeilicher Ermittlungen erfasste Graffiti-Bildbestände aus Mannheim, Köln und München genutzt. Wesentliche weitere Quellen sind private Graffitisammlungen wie das von Peter Kreuzer zusammengetragene Münchner Archiv und eine Sammlung des Graffiti-Galeristen Dirk Kreckel.30) Ursprünglich war INGRID für die akademische Forschung angelegt, wurde aber mittlerweile für alle Interessenten zur Recherche und Einpflege von Graffitidaten geöffnet. Bei der Kategorisierung und Beschreibung werden die Bilder gemäß eines detaillierten Annotationssystems31) erschlossen.
Obwohl das Projekt vorwiegend durch Vertreter kulturwissenschaftlicher Disziplinen initiiert wurde, erwartet man Impulse für eine spätere bereichsübergreifende Nutzung:
»Dies macht Graffiti für verschiedene wissenschaftliche Disziplinen zu einem zunehmend interessanten Forschungsgegenstand, auch wenn das Thema innerhalb der einzelnen Fächer bislang nur eine marginale Rolle spielt und es selten zu interdisziplinären Kooperationen kommt.«32)
»Die Bilddatenbank ist nicht nur für die Sprachwissenschaft und die Kunstgeschichte von großem Interesse, sondern auch für weitere Fächer, die sich mit Graffiti als Forschungsgegenstand befassen, insbesondere für die Ethnologie, die Kultur- und Medienwissenschaften, die Urbanistik, die Stadtsoziologie und die Stadtplanung. Da Angaben zum Entstehungsort sowie zur Entstehungszeit der Bilder vorliegen, ist es etwa möglich, Städteprofile zu erstellen, die den Zusammenhang zwischen städtischer Infrastruktur und dem Aufkommen von Graffiti sowie die Analogien zwischen der Entwicklung von Graffiti und sozialen und städtebaulichen Veränderungen aufzeigen können.«33)
Es bleibt zu hoffen, dass durch INGRID Forscherinnen und Forscher tatsächlich für die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit der Thematik motiviert werden können – das erhoffte Interesse scheint bisher ausgeblieben zu sein. Auf der Webpräsenz des Projekts sind wissenschaftliche Arbeiten aufgelistet, die im Kontext von INGRID bereits entstanden sind oder gerade entstehen.34) Die Mehrzahl davon ist den Kulturwissenschaften zuzuordnen, interdisziplinäre Ansätze sind leider nur rudimentär erkennbar. Ob INGRID geeignet ist, die Erarbeitung nachhaltiger multidimensionaler Strategien zum Umgang mit Graffiti zu unterstützen, kann momentan noch nicht abschließend bewertet werden.