Strategien des Umgangs mit Graffiti

Die Erfahrung lehrt, dass kein noch so ausgeklügeltes Konzept, keine noch so cleveren Einzelmaßnahmen und kein noch so kompromissloses Vorgehen unbefugt erstellte Graffiti – als jahrtausendaltes, komplexes gesellschaftliches Phänomen – gänzlich aus dem urbanen Raum verdrängen werden.1) Alle verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse deuten ebenfalls darauf hin, dass auch die Förderung von Graffiti als singuläre Kunstform mittels Ausstellungen, legaler Wände, Auftragsarbeiten, Kursen etc. nicht zu einer dauerhaften Assimilierung von Graffiti ins gesellschaftliche Rahmenkorsett führt und minderwertige Graffiti eher fördert als verdrängt. Jeglicher bisheriger Umgang mit Graffiti durch Außenstehende adressierte zum Großteil lediglich Symptome, ohne in den Wesenskern des Phänomens einzudringen.

Wer Graffiti als Problem sieht, sollte jenseits von Ablehnung oder Akzeptanz neue Wege gehen. Voraussetzung dafür ist immer das Verständnis des Wesens von Graffiti als anarchische, vorwiegend jugendliche Kommunikationsform. Je wirksamer diese Kommunikationsform ist, je stärker sie reflektiert wird, um so mehr unbefugt erstellte Graffiti gibt es. Graffiti lassen sich nicht auf rechtliche, künstlerische und kulturelle Aspekte einengen, sondern umfassen vor allem soziale und sozialpsychologische Wesenszüge. Es gibt keine guten oder schlechten Graffiti, keine ästhetischen oder hässlichen. Wer Graffiti durch Strafverfolgung kompromisslos bekämpft oder unreflektiert als kulturell-künstlerische Besonderheit fördert, muss sich bewusst sein, dass es Graffiti immer nur im Gesamtpaket gibt und nicht in gewünschten Teilen. Einseitige weltanschauliche oder persönlich-subjektive Positionen, die wissenschaftliche Erkenntnisse ignorieren, werden keine Hilfe im Umgang mit Graffiti sein.

Der Deutsche Verein für Graffitiforschung bietet Beratung und Vorträge zur Thematik Umgang mit Graffiti an.

Das komplexe kulturhistorische Phänomen Graffiti lässt sich nur durch eine aufwendige, komplexe Herangehensweise begegnen. Einzelmaßnahmen allein werden der Herausforderung nicht gerecht. Nachfolgend wird eine mögliche Vorgehensweise skizziert:

  1. Erfassung und Erschließung des örtlichen Graffitiaufkommens.
  2. Analyse der erschlossenen Daten.
  3. Analyse des gesamtgesellschaftlichen Umfelds:
    1. Positionen und Absichten der politisch relevanten Parteien und Volksvertretungen zum Thema Graffiti.
    2. Meinungen der Bürger zu Graffiti.
    3. Positionen der durch Graffiti Geschädigten.
    4. Umfang, Einfluss und Vernetzung der lokalen Graffitiakteure.
    5. Bewertung der allgemeinen sozialen Lage und Beachtung lokaler sozialer Hotspots.
    6. Einbeziehung aktueller politischer Kontroversen.
    7. Ermittlungsergebnisse von Polizei und Staatschutz (soweit verfügbar).
    8. Rechtliche Vorgaben und aktuelle Gerichtsurteile mit Graffitikontext.
    9. Bewertung sonstiger wesentlicher Faktoren mit Einfluss auf das Graffitiaufkommen.
    10. Evaluierung bisher ergriffener Maßnahmen.
  4. Erarbeitung einer langfristigen, nachhaltigen und multidimensionalen Strategie zum Umgang mit Graffiti, basierend auf den Ergebnissen der o. g. Analyse und wissenschaftlichen Erkenntnissen der Graffitiforschung.
  5. Erstellung und Umsetzung einer Konzeption mit erfolgversprechenden, kurz- und mittelfristig umzusetzenden Maßnahmen.
  6. Periodische Evaluierung der Wirksamkeit der umgesetzten Konzeption, Nachjustierung falls erforderlich.

Die beigefügte Grafik listet Einzelmaßnahmen zum Umgang mit Graffiti auf. Diese umfassen sowohl Maßnahmen zur Prävention unbefugt erstellter Graffiti als auch zur Förderung legaler graffitiähnlicher Darstellungen. Alle Maßnahmen lassen sich unterteilen in solche, die symptomatische Ansätze verfolgen (die Erscheinung von Graffiti steht im Fokus) und solche, die auf systemischen Ansätzen basieren (das Wesen von Graffiti steht im Fokus). Besteht die Zielstellung in der Verringerung und Prävention unbefugt erstellter Graffiti, so zeigen nur sehr wenige Einzelmaßnahmen sowohl mit symptomatischen als auch systemischen Ansätzen gute Erfolgschancen. Manche bewirken in diesem Kontext sogar das Gegenteil des Gewollten. Die meisten Einzelmaßnahmen wirken nur unter Einhaltung bestimmter Voraussetzungen. Nachhaltige Erfolge zeigen nur Kombinationen bestimmter Einzelmaßnahmen, die nach sachkundiger Analyse der konkreten Bedingungen vor Ort ausgewählt, konsequent durchgesetzt und periodisch evaluiert werden. Eine allgemeingültige Aussage zur Wirksamkeit bestimmter Maßnahmen ist deshalb nicht möglich.

Während einigen wenigen Maßnahmen von Betroffenen subjektiv oft eine gute Wirksamkeit bescheinigt wird, liegen lediglich zu Freigabe von Flächen zum legalen Sprühen und eingeschränkt zu Konsequentes präventives Entfernen wissenschaftlich belastbare Ergebnisse vor. Deshalb werden nur die beiden letztgenannten Maßnahmen im Weiteren hier näher beleuchtet.

Einzelmaßnahmen zum Umgang mit Graffiti

Das konsequente präventive Entfernen gehört zu den systemischen Ansätzen zur Prävention illegaler Graffiti, da hierbei die Wirksamkeit der Kommunikation durch Graffiti - als signifikantes Wesensmerkmal - erheblich verringert wird. Indem illegale Graffiti schnellstmöglich nach deren Aufbringen entfernt/übermalt werden, wird den Sprayern die öffentliche Reichweite und Wirkung ihrer (Graffiti-)Botschaften entzogen. Diese Maßnahme ist sehr aufwands- und ressourcenintensiv. Der Erfolg hängt davon ab, wer den längeren Atem hat, da übermalte Graffiti eine regelrechte Aufforderung für das Aufbringen neuer darstellen. Weiterhin muss davon ausgegangen werden, dass diese Einzelmaßnahme nur kurz- und mittelfristig Wirkung zeigt, da ortsfremde Sprayer oder nachwachsende Generationen die graffitifreien Flächen irgendwann für sich entdecken werden.

Während private und öffentliche Eigentümer das konsequente präventive Entfernen illegaler Graffiti aus subjektiver Sicht oft als erfolgreich darstellen, ist die wissenschaftliche Datenlage zur Präventionswirksamkeit dieser Maßnahme eher unzureichend. Die einzige hier bekannte wissenschaftliche Studie im deutschsprachigen Raum, die sich dazu äußert, ist die erste mitteldeutsche Graffitistudie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Allerdings kommt die Studie diesbezüglich aufgrund unzureichender Daten zu keinem eindeutigen Schluss:

»Insgesamt fiel die Zahl der beobachteten Graffitientfernungen derart gering aus, dass eine Überprüfung der [Präventionswirksamkeit] zu keinem aussagekräftigem Ergebnis gelangen konnte. An dieser Stelle bleibt demnach offen, ob das Ergreifen von Graffitibeseitigungsmaßnahmen tatsächlich die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Besprühung verringert.«2)

Für die Eigentümer von Mietshäusern scheint es auch eine Frage der ökonomischen Abwägung zu sein, ob sie an betroffenen Wänden Graffitibeseitigung durchführen oder nicht. Lassen sich der Wert des Hauses und letztlich die Mieteinnahmen durch Graffitibeseitigung nicht wesentlich erhöhen, wird wohl eher auf Graffitibeseitigung verzichtet:

»Je niedriger die Qualität einer Straße insgesamt ist, desto mehr besprühte Häuser sind dort zu finden. Anscheinend befinden sich Vermieter tatsächlich in einem Gefangenendilemma, wenn benachbarte Häuser unsaniert oder gar leer stehend sind. Da unter diesen Umständen der Wert des Hauses nicht erhöht werden kann, indem in eine Graffitibeseitigung investiert wird, wird auf derartige Maßnahmen eher verzichtet.«3)

Bereits 1969 etablierte die Abteilung für Kulturelle Angelegenheiten der Stadt New York – als Präventionsmaßnahme gegen das überhand nehmende Style Writing – das Projekt City Walls. Es diente offiziell zur Förderung legaler Wandmalereien, Zuwendungen waren sogar von der Steuer absetzbar. Jean Baudrillard schrieb dazu:

»Die City Walls Incorporated ist eine Organisation, die 1969 gegründet wurde, „um das Programm und die technischen Aspekte der Wandmalerei zu fördern. […] Ihre Ideologie ist eine künstlerische: „Natürliche Verbindung zwischen den Gebäuden und der Monumentalmalerei“. Ihr Ziel: „Der Bevölkerung New Yorks Kunst nahe zu bringen.«4)

Scharfsinnig erkannte Baudrillard den wesentlichen Unterschied zwischen den geförderten Wandmalereien und den echten Graffiti und zweifelte – rein analytisch – an der Wirksamkeit der Maßnahme:

»Allem Anschein zum Trotz haben die City Walls, die Wandmalereien, nichts mit Graffiti zu tun. […] Die Initiative zu diesen Wandmalereien kommt von oben, sie ist ein mit kommunalen Subventionen zu Wege gebrachtes Unternehmen der urbanen Innovation und Animation. […] Aber darin genau liegt ihre Grenze. Sie bringen die Architektur ins Spiel, aber ohne die Spielregeln zu brechen.«5)

Seitdem stellen Städte auf der gesamten Welt Flächen zur Verfügung, auf denen - unter gewissen Auflagen - legal gesprüht werden darf. Oft werden diese Flächen als Wall of Fame oder Hall of Fame bezeichnet.6) Dabei handelt es sich meist um Wände im abgelegenen öffentlichen Raum (Unter- und Überführungen, Brücken, ungenutzte Fabrik- und Lagereinrichtungen, Sicht-, Sicherungs- und Schallschutzwände u. a.). Wenige Städte errichten für viel Geld sogar explizite Graffitiwände oder widmen wenig frequentierte Kultur- und Spieleinrichtungen dem genannten Zweck um. Gelegentlich werden auch durch Privatpersonen - i. d. R. in Absprache mit den Behörden - Flächen zum legalen Sprühen bereitgestellt. Um die legalen Wände gibt es immer wieder Kontroversen, da sich die Sprüher nicht immer an die vorgegebenen Auflagen halten. Dies führt nicht selten behördlicherseits zu einer Rücknahme der Genehmigung zum legalen Sprühen. Generell ist in den vergangenen Jahren deutschlandweit eine Verringerung der Anzahl der legalen Wände zu verzeichnen. Nur noch selten werden aktuell neue Flächen bereitgestellt.

Ursprüngliches Ziel legaler Flächen ist immer die Prävention illegaler Graffiti. Die Behörden hoffen, dass Writer ihre Tags, Throw-Ups, Pieces, Characters usw. auf die freigegebenen Wände sprühen und andere Flächen verschonen. Zumindest wird erwartet, dass die bereitgestellten Flächen zum Üben durch unerfahrene Sprüher genutzt werden und erst nach Erlangung gewisser handwerklicher Fähigkeiten illegal gesprüht wird, damit das Stadtbild durch sogenannte Toys weniger verschandelt wird. Tatsächlich sind auf den freigegebenen Wänden aber kaum Anfänger-Graffiti zu finden. Die Walls of Fame sind meist durch künstlerisch hochwertige Graffiti geladener auswärtiger Kings geprägt und scheinen eher ein Prestige- und Präsentationsobjekt von Bürgermeistern und Kulturreferenten als eine Übungsfläche für alle zu sein. Hingegen ist in der unmittelbaren Nachbarschaft der legalen Wände - und somit im illegalen Bereich - oft eine extreme Häufung minderwertiger Graffiti zu verzeichnen.

Legale Wände sind in der Graffiti-Szene umstritten. Vor allem Hard-Core-Sprüher lehnen diese ab oder nutzen sie höchstens für Übungszwecke, da der Nervenkitzel beim illegalen Sprühen als wesentliches Element der Motivation und Befriedigung gesehen wird und wirkliche Anerkennung (Fame) in der Szene nur durch illegale Aktionen erreicht werden kann:

»Legal malen langweilt auf Dauer. Jeder Maler, der illegal begonnen hat und davon abkommt, kehrt irgendwann wieder zum illegalen Graffiti zurück. Es ist das Einzige, was auf Dauer befriedigt und bestätigt.«7)
»Was einen auch ultimativ dabei motiviert hat, war einfach das Abenteuer, das Katze-und-Maus-Spiel in den Schächten; das Illegale, etwas zu tun, was man eigentlich nicht darf.«8)
»Graffiti illegal is' schlecht - legal is' gut: Das will nich' paradoxerweise bei mir funktionieren, dass das eine Basis sein kann; weil: ich mach' doch illegal manchmal bessere Bilder als legal; obwohl das auch paradox eigentlich is', [dass man] in einer angestrengten Angstsituation […] so ein wunderbares Werk hinkriegt und in einer völlig entspannten Situation [nicht].«9)
»Man kann natürlich auch immer das Risiko durch 'ne gute Planung, durch 'ne gute Durchführung auch etwas mindern. Dennoch bleibt immer ein Restrisiko; aber das ist ja auch irgendwo im Endeffekt sogar erwünscht, weil das gibt einem dann ja auch den Adrenalinschub so dabei.«10)
»Ich hab' nichts gegen die [legalen] Wände. Manchmal geh' ich da hin und probier' was aus, was ich dann in echt male. Was die [Behörden] damit erreichen wollen - keine Ahnung. Kommt mir so vor, dass man 'nen Puff baut und denkt, dass es [dann] weniger Vergewaltigung [gibt].«11)
»Für den Graffitiakteur stellt die Illegalität seiner Handlung also einen kalkulierten Nutzen dar. Dies könnte erklären, warum ein Angebot, Wände legal zu besprühen, nicht zu einem Rückgang illegaler Graffiti führt […] Die Höhe des angedrohten Strafmaßes [spielt] für die Sprüher eine untergeordnete Rolle […] Das Risiko des „Erwischtwerdens“ gehört zu den Handlungsanreizen des Sprühens.«12)

Neben dem fehlenden Nervenkitzel wird in der Szene bei legalen Wänden auch der Verlust des besonderen Mythos und der Exklusivität befürchtet:

»Ja im Prinzip ist es mir schon wichtig, dass es illegal ist; weil ansonsten könnte halt irgendwie jeder 'en Zug malen; und ja man macht das irgendwie schon, auch weil es so ein Mythos ist, das was Geheimnisvolles in sich birgt. Und ich denke schon, das würde halt verloren gehen, wenn das jeder machen würde oder könnte.«13)

Obwohl die gestandenen Sprüher gegenüber Nachwuchs durchaus offen sind, werden minderwertige Graffiti (Toys) nicht gern gesehen, da sie durch ihre unästhetische Erscheinung die gesamte Szene diskreditieren. Eine weiterer Grund für die teilweise Ablehnung legaler Wände in der Szene ist, dass die Ermittlungsbehörden anhand der Signatur eines legalen Graffito auf den Ersteller eines illegalen schließen könnten. Manche Writer umgehen dies, in dem sie mehrere Pseudonyme nutzen oder verschiedene Techniken anwenden. Auch wird befürchtet, dass legale Wände als genereller Überwachungs- und Anlaufort für Strafermittlungs- und Verfolgungsbehörden dienen könnten. Letztlich ist die öffentliche Reichweite für die Sprayer auf legalen Wänden gering, da sich diese meist an abgelegenen, verborgenen Orten befinden.

Eine Studie der Universität Potsdam ergab, dass von 294 betrachteten Sprühern 43 nur legal sprühen und 62 nur illegal. Der weitaus größere Anteil von 189 sprühte sowohl legal als auch illegal. Die Studie zweifelt aufgrund dieser Ergebnisse die Wirksamkeit von legalen Wänden zur Prävention illegaler Graffiti an:

»Was sagen die Ergebnisse zur Möglichkeit, illegales Graffiti-Sprayen einzudämmen oder zu verhindern? Schon die Zusammensetzung unserer Stichprobe zeigt, dass eines nicht funktioniert: Man wird illegales Sprayen kaum dadurch verhindern, dass man Gelegenheit zum legalen Sprayen bietet. Die mit Abstand größte Gruppe war nämlich die, die beides machte: Graffiti legal und illegal zu sprayen. Würde die Möglichkeit zum legalen Graffiti illegales Sprayen sicher verhindern, dürfte es diese Gruppe gar nicht geben. Statt dessen ist diese Gruppe die mit Abstand größte von allen! […] Für Jugendliche mit hohen Sensation-Seeking-Tendenzen ist legales Sprayen anreizmäßig defizitär.«14)

Repräsentative behördliche Erhebungen über die Wirksamkeit legaler Flächen zur Prävention illegaler Graffiti gibt es im deutschsprachigen Raum nicht. Søren Pind äußerte sich als Bürgermeister für Gebäude und Technik in Kopenhagen dazu eher skeptisch:

»Kopenhagen, Oslo und Helsinki haben schlechte Erfahrungen mit dem Errichten legaler Graffiti-Wände gemacht […] Wir haben aus Erfahrung gelernt, dass diese Wände zur Verbreitung von Graffiti in der ganzen Stadt […] beitragen.«15)

Rein analytisch ließen sich legale Wände mit dem psychologischen Konzept der Katharsis vergleichen. Bei diesem Konzept soll das kontrollierte Ausleben verdrängter negativer Emotionen und innerer Konflikte zu einer Verringerung dieser Emotionen und Konflikte, quasi zu einer Reinigung der Seele, führen. Das Konzept geht auf Aristoteles zurück, ist mittlerweile aber weitgehend widerlegt16) und wurde durch die freie Assoziation17) als psychoanalytische Behandlungstechnik verdrängt. Tatsächlich berichten skandinavische Städte über Präventionserfolge unter Hard-Core-Sprayern durch Mediationen unter Beteiligung von Psychologen.18)

Während sich aktuelle universitäre Graffitiforscherinnen und -forscher in Deutschland mit Kommentaren zu legalen Wänden eher zurückhalten, bezogen die Alt-Granden der Graffitiforschung dazu unmissverständlich Stellung, waren jedoch durchaus geteilter Meinung. Uneingeschränkt befürwortet wurden die freigegebenen Flächen von Peter Kreutzer19) und Norbert Siegl20). Axel Thiel hingegen änderte seine Meinung im Laufe seiner Untersuchungen und lehnte legale Wände letztlich als untauglich ab.21) Empirische Daten zur Bestätigung ihrer jeweiligen subjektiven Meinungen wurden jedoch nicht erbracht.

Die einzige wissenschaftliche Erhebung im deutschsprachigen Raum zur Wirksamkeit von legalen Wänden wurde im Rahmen der Ersten mitteldeutschen Graffitistudie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg am Beispiel der Stadt Halle (Saale) durchgeführt.22) Die Studie kommt zum Schluss, dass legale Wände keinen Beitrag zur Prävention illegaler Graffiti leisten, sondern eher das Gegenteil bewirken. Interessanterweise zeigte sich hier der Effekt, dass durch die Bereitstellung legaler Wände der prozentuale Zuwachs des Aufkommens illegaler Graffiti um so größer ist, je weiter diese Flächen vom Stadtzentrum entfernt sind. Gleiches gilt für die Anzahl von Graffiti (Tags) pro Haus:

»Die Bereitstellung einer offiziellen Wand zum Graffiti-Sprühen erzielt nicht den Effekt, die Graffitimenge in diesem Gebiet zu reduzieren. Vielmehr handelt es sich sogar um einen positiven Zusammenhang zwischen offizieller Fläche und Graffitiaufkommen.«23)
Anteil von Häusern mit illegalen Graffiti

.

Graffiti-Tags pro Haus

Als Resümee der Untersuchungsergebnisse wird in der Studie festgehalten:

»Durch die Bereitstellung offizieller Flächen kann das illegale Graffiti-Sprühen demnach nicht reduziert werden. […] Zunächst kann davon ausgegangen werden, dass Sprayer die offiziellen Flächen nutzen, um die Qualität ihrer Arbeiten zu steigern und ihr Können unter Beweis zu stellen. Das Erfüllen der von den Sprayern angestrebten Kriterien für einen „guten“ Sprüher sind jedoch im Rahmen dieser legalen Malereien nicht gegeben. Erst durch illegale Aktionen können „Fame“ (Erhöhung des Bekanntheitsgrades in der Szene) und „Thrill“ (Nervenkitzel) erreicht werden. […] Dabei dient die offizielle Fläche möglicherweise als Startpunkt der […] illegalen Aktionen. Dies würde begründen, warum sich in deren Umfeld mehr illegale Graffiti befinden.«24)

Letztlich wirft die Erste Mitteldeutsche Graffitistudie die Frage auf, ob es generell sinnvoll ist, illegale Graffiti als jahrtausendaltes gesellschaftliches Phänomen generell abschaffen zu wollen. Vielmehr sollten Graffiti auch als Indikatoren des gesellschaftlichen Zustands genutzt werden, um daraus Schlüsse für politisches Handeln zu ziehen. Zur Vermeidung unästhetischer Schmierereien an unerwünschten Orten ist die unreflektierte Förderung von Graffiti als künstlerische Singularität dabei sicherlich der falsche Weg. Um Schmierereien zu verringern, gilt es vielmehr Ersatzaktivitäten zu finden, die u. a. eine stärkere Beteiligung an der Gestaltung des öffentlichen Raums beinhalten könnten. Nachhaltige Lösungen werden aber wohl erst mit weiterer intensiver Forschung aufzuzeigen sein:

»[Die Sprüherinnen und Sprüher] können […] der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten (wenn jene in ihn hineinzusehen gewillt ist). Sofern die Gesamtgesellschaft ihrerseits daran interessiert ist, Wege zwischen dem Innen und Außen der Graffiti-Kultur offen zu halten, wird sie - unter anderem - versuchen, der speziellen Ästhetik und Gestaltungsphilosophie mehr Mitbestimmung über die Ausgestaltung öffentlicher Räume zuzugestehen. Zu überlegen ist, ob es hierzu nicht sogar symbolisch kapitalträchtigere Orte gibt als legale Flächen an Bauzäunen, provisorischen Stellwänden oder abgelegenen Mauern. In jedem Falle sollte die Gesellschaft damit umgehen lernen, dass Graffiti ein dauerhafter und eigenständiger Teil des jugendkulturellen Spektrums ist, den lediglich als abzuschaffendes Problem zu definieren wenig Erfolg versprechend ist.«25)
»Eine Konkurrenz zum Graffiti könnten Partizipationsmöglichkeiten am öffentlichen Raum sein, die Jugendlichen, so wie Graffiti, sehr einfach zugänglich sind. […] Alternativen zum Graffiti sollten deshalb Anerkennung durch Gestaltung des öffentlichen Raumes zum Ziel haben. Wichtig dabei ist: den Zugang dieser Projekte unabhängig vom sozialen und kulturellen Kapital der Jugendlichen zu gestalten, so wie auch Graffiti diesbezüglich keine Schranke aufweist.«26)
»Fraglich ist, ob für alle diese Anreize [zum Graffiti-Sprayen] Ersatz gefunden werden muss, oder ob es auf nur wenige kritische Anreize ankommt. […] Das muss aber in Längsschnittuntersuchungen genauer geklärt werden. […] Genau für diese Anreizdimensionen müsste man dann Alternativen finden, wenn man z. B. in Interventionen das nächtliche Engagement auffällig gewordener Sprayer auf andere Tätigkeitsfelder lenken möchte.«27)

1)
Der schwedische Writer Tobias Barenthin Lindblad erkennt keine empirisch nachgewiesene Wirksamkeit einer kompromisslosen Bekämpfung von Graffiti: »Eine der Aufgaben der Nulltoleranz ist es, Graffitikünstler zu entmenschlichen und ihnen gemeinsame negative Eigenschaften zuzuschreiben. Nulltoleranzbefürwortern fehlen jedoch wissenschaftliche Unterlagen, um ihre Aussagen zu belegen.« – Lindblad, Tobias Barenthin: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – TOD UND LEBEN VON GRAFFITI, Abruf am 23.11.2022
2)
Dorn, Annelie in: Sackmann, Reinhold et al.: Graffiti kontrovers – Die Ergebnisse der ersten mitteldeutschen Graffitistudie, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale), 2009, S. 120
3)
Dorn, Annelie in: Sackmann et al. (2009), S. 119 f.
4)
Baudrillard, Jean: KOOL KILLER oder Der Aufstand der Zeichen, Merve Verlag, Berlin, 1978, S. 31
5)
Baudrillard (1978): S. 31 ff.
6)
Wie die Bezeichnung Hall/Wall of Fame vermuten lässt, ist die ursprüngliche Idee dieser Einrichtungen, außergewöhnlich künstlerisch und ästhetisch ansprechende Graffiti zu repräsentieren. Manche Flächen waren mit der Aufschrift „KINGS ONLY“ gekennzeichnet (King = herausragender Writer im Graffitijargon). Später wurden sie – unter Beibehaltung der Bezeichnung – formal für alle Akteure freigegeben. Tatsächlich sind aber auf legalen Wänden vorrangig hochwertige Graffiti zu finden. Dafür ist die unmittelbare Nachbarschaft oft durch eine extreme Häufung von Toys (Toy = minderwertiges Graffito; unbegabter oder Anfänger-Writer im Graffitijargon) gekennzeichnet. Mit dieser bewussten Erstellung minderwertiger Graffiti im illegalen Bereich wird teilweise Respekt für die höherwertigen Graffiti der Kings ausgedrückt, teilweise aber auch auf die „Diskriminierung“ der Anfänger hingewiesen oder auch generelle Ablehnung der Halls/Walls of Fame zum Ausdruck gebracht.
7)
Manig, Yvette: Anreizstruktur des Graffitisprayens, Diplomarbeit, Institut für Psychologie der Universität Potsdam, 2002, S. 100
8)
ACID79/DRM in: Regel, Henrik und Birg, Björn: Unlike U – Trainwriting in Berlin, Deutschland, HISKICK Productions, 2011
9)
THE CITY FAMOUS in: Regel/Birg (2011)
10)
ACID79/DRM in: Regel/Birg (2011)
11)
7616/NVD, Interview im Clash, Berlin, 2018
12)
Harding, Peter in: Sackmann, Reinhold et al.: Graffiti kontrovers - Die Ergebnisse der ersten mitteldeutschen Graffitistudie, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale), 2009, S. 36 f.
13)
ROY/TFZ in: Regel/Birg (2011)
14)
Rheinberg, Falko / Manig, Yvette: Was macht Spaß am Graffiti-Sprayen? Eine induktive Anreizanalyse, 2003, S. 21
15)
Henning, Karl (Hrsg.): NOFITTI 2005 - Erster Internationaler Anti-Graffiti-Kongress Berlin, Universitätsverlag der TU Berlin, Berlin, 2005, S. 43
16)
vgl.: Bandura, Albert: Aggression: social learning analysis, Englewood Cliffs, N.J., 1973
17)
Freud, Siegmund: Sebstdarstellung, Internat. psychoanalyt. Verl., Wien, 1927
18)
Gauko, Haantie (Projektleiter „Graffitifreies Helsinki“) in: Henning (2005), S. 70 f.
19)
„Die Behörden sollten wilde Graffiti-Bilder verhindern, indem sie den Jugendliche legale zu sprühen erlauben.“ in: Kreuzer, Peter: Das Graffiti-Lexikon: Wand-Kunst von A bis Z, Heyne, München, 1986, S. 202
20)
Institut für Graffiti-Forschung: Graffiti und Strafrecht, legale Wände für Graffiti-Sprayer, Abruf am 08.08.2022
21)
Axel Thiel: Graffiti Archivist – Zusammenfassung wesentlicher Ideen von Axel Thiel aus der Heftreihe „Einführung in die Grafitti-Forschung“ (englisch)
22)
Sackmann, Reinhold et al.: Graffiti kontrovers - Die Ergebnisse der ersten mitteldeutschen Graffitistudie, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale), 2009
23)
Dorn, Annelie et al. in: Sackmann et al. (2009), S. 199
24)
Dorn, Annelie et al. in: Sackmann et al. (2009), S. 202
25)
Schnoor, Oiver in: Sackmann et al. (2009), S. 29
26)
Harding, Peter in: Sackmann et al. (2009), S. 37
27)
Rheinberg/Manig (2003), S. 22
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  • von graffitaro