Graffiti: Bewertung durch Staat und Bürger

Graffiti, die unbefugt auf fremdem Eigentum erstellt wurden, kollidieren regelmäßig mit dem im deutschen Grundgesetz verankerten Grundrecht auf Eigentum. Bei dem Anteil von Graffiti, der als Meinungsäußerung oder Kunst eingestuft werden kann, kollidiert somit das Grundrecht auf Eigentum mit den ebenfalls konstitutionell verankerten Grundrechten auf freie Meinungsäußerung oder auf Freiheit der Kunst. Wird der Straftatbestand der Sachbeschädigung erfüllt, billigt die aktuelle Rechtsprechung grundsätzlich dem Grundrecht auf Eigentum einen höheren Stellenwert zu.1) 2) Gesetzgebung und darauf basierende rechtliche Bewertung folgen im Zuge des gesellschaftlichen Wandels oft sich ändernden moralischen Mehrheitsmeinungen. Die aktuelle rechtliche Positionierung von Graffiti ist somit nicht für alle Zeiten festgeschrieben.

Der Begriff Graffiti kommt im deutschen Strafgesetzbuch nicht explizit vor. Unbefugt auf fremdem Eigentum erstellte Graffiti können nach § 303 StGB Sachbeschädigung, unbefugt auf Sachen mit öffentlichem Nutzungsinteresse erstellte Graffiti nach § 304 StGB Gemeinschädliche Sachbeschädigung verfolgt werden. Während § 303 StGB den Schutz von Eigentum adressiert, zielt § 304 StGB auf das öffentliche Interesse an der Unversehrtheit der betroffene Sache3) ab, wobei die Eigentumsverhältnisse nur eine sekundäre Rolle spielen.4) Tatsächlich machen die polizeilich erfassten Graffiti-Delikte nach § 304 StGB Gemeinschädliche Sachbeschädigung nur einen Bruchteil derer nach § 303 StGB Sachbeschädigung aus.5)

Das Gesetz droht bei Sachbeschädigung eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe und bei Gemeinschädlicher Sachbeschädigung eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe an. Somit wird der Unversehrtheit einer Sache mit öffentlichem Interesse eine höhere Bedeutung beigemessen als dem bloßem Schutz von Eigentum. Beim Lesen des Gesetzestextes fällt auf, dass die Strafandrohung für das Zerstören einer fremden Sache genau so hoch ist, wie für die unbefugte, nicht nur unerhebliche und nicht nur vorübergehende Veränderung des Erscheinungsbildes einer fremden Sache. Das heißt, die Strafandrohung für Graffiti, selbst wenn diese die Funktionalität der geschädigten fremden Sache in keiner Weise beeinträchtigen, ist genau so hoch wie für die Zerstörung derselben fremden Sache. Dieser Sachverhalt soll hier nicht in Frage gestellt werden, dennoch ist er bemerkenswert – bedeutet er doch, dass einem Graffito nach aktueller gesetzlicher Vorgabe eine (im Verhältnis zur Schwere der Auswirkungen der Tat) außergewöhnlich hohe moralische Verwerflichkeit zugemessen wird.

Zum besseren Verständnis der heutigen gesetzlichen Realität ist ein Rückblick ins Jahr 2005 unabdingbar. Damals wurden die §§ 303, 304 StGB durch den Gesetzgeber um den heutigen Absatz (2) ergänzt, um eine einfachere Verurteilung der unbefugt tätigen Graffitiakteure zu ermöglichen. Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre wuchs die Anzahl der erfassten Fälle von Sachbeschädigung von Graffiti in Deutschland stark an. Die Gerichte hatten jedoch Probleme, den Straftatbestand Sachbeschädigung / Gemeinschädliche Sachbeschädigung festzustellen, da die Graffiti oft keine oder keine wesentliche Beeinträchtigung der Funktionalität oder des Gebrauchs der geschädigten Sache hervorriefen, keine wesentliche unmittelbare Substanzverletzung darstellten und auch keine sonstigen wesentlichen strafrechtsrelevanten Sachverhalte mit sich brachten. Eine Verurteilung der Täter (so sie denn gefasst wurden und es überhaupt zur Verhandlung kam) war somit häufig nicht möglich. Im Zuge einer von mehreren politischen Parteien unterstützten politischen Kampagne einigten sich die Beteiligten, keinen eigenen Straftatbestand Graffiti einzuführen (wie teilweise gefordert), sondern lediglich, das bestehende Gesetz zu ergänzen. Bestraft werden kann nun, wer unbefugt das Erscheinungsbild einer fremden Sache oder einer Sache mit öffentlichem Interesse nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert. Als wichtiges Kriterium für den Aspekt „nicht nur unerheblich“ wird in der Rechtsprechung häufig die Größe des Graffito, auch im Verhältnis zur Größe der geschädigten Sache, herangezogen. Für den Aspekt „nicht nur vorübergehend“ wird hingegen oft der Aufwand zur Beseitigung des Graffito betrachtet, unabhängig davon, wie schnell es u. U. tatsächlich beseitigt wurde. Auch das (gutgemeinte) eigenmächtige Entfernen oder Übermalen unliebsamer Graffiti ohne Autorisierung durch den Eigentümer der betroffenen Wand oder Fläche kann formal als Sachbeschädigung geahndet werden, selbst wenn die Graffitibotschaft gegen Recht und gute Sitten verstößt oder missliebige weltanschauliche Positionen beinhaltet.

Erfasste Fälle von Sachbeschädigung durch Graffiti in Deutschland

Im Rückblick führte die Ergänzung der Sachbeschädigungsparagrafen des Strafgesetzbuches um die „Graffiti“-Absätze weder zu einer Verringerung illegaler Graffiti noch zur Erhöhung der Anzahl diesbezüglicher Verurteilung. Tatsächlich stieg die Anzahl der entsprechenden Sachbeschädigungen weiter an bis 2009 eine Änderung der statistischen polizeilichen Erfassung erfolgte und Sachbeschädigungen durch Graffiti nunmehr explizit aufgeführt werden. Mit der Änderung der statistischen Erfassung sank die Anzahl der relevanten Fälle bis 2013 kontinuierlich6) und pegelte sich seitdem um etwa 100.000 deutschlandweit pro Jahr ein. Sie liegt damit immer noch weit über der Anzahl um das Jahr 2000.

Neben den beiden Sachbeschädigungsparagrafen können im Kontext Graffiti weitere Straftatbestände zutreffen. Insbesondere sind hier § 123 StGB Hausfriedensbruch, § 274 StGB Urkundenunterdrückung; Veränderung einer Grenzbezeichnung, § 315 Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr und § 330a StGB Schwere Gefährdung durch Freisetzen von Giften zu nennen. Hausfriedensbruch kann dann zur Anwendung kommen, wenn ein durch Zaun, Mauer u. a. befriedetes Besitztum unbefugt betreten wird. Urkundenunterdrückung; Veränderung einer Grenzbezeichnung könnte zutreffen, wenn technische Beschriftungen bspw. an Zügen unkenntlich gemacht werden oder Grenzkennzeichnungen nicht mehr eindeutig erkennbar sind. Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr wäre denkbar wenn durch Unkenntlichmachung von Verkehrsschildern oder Verkehrsleiteinrichtungen ein Unfall, insbesondere mit Personenschaden, hervorgerufen wird. Schwere Gefährdung durch Freisetzen von Giften wäre möglich bei der Erstellung von Graffiti mit Säuren, die Ätzungen auslösen oder giftige Dämpfe freisetzen können.

Ein wesentlicher Aspekt der Strafverfolgung von illegalen Graffiti liegt darin, dass die meisten Täter, so sie denn ermittelt werden können, unter das Jugendstrafrecht fallen, da die übergroße Mehrzahl der Akteure sich im entsprechenden Alter (14 bis 21 Jahre) befindet. Somit kommt es kaum zu Freiheitsstrafen, da überwiegend sogenannte Erziehungsmaßregeln und Zuchtmittel verhängt werden. Im Übrigen würde sich – nach Eigenauskunft – die Mehrzahl der Sprayer nicht von einem erhöhten Strafmaß abschrecken lassen. Vielmehr werden hohe Schadensersatzansprüche gefürchtet, die sich zivilrechtlich ergeben können. Jegliche – immer mal wieder lautstark geforderte – Straftatbestandsverschärfung würde deshalb überwiegend ins Leere laufen. Während strafrechtliche Konsequenzen bei Kindern unter 14 Jahren (keine Strafmündigkeit) ausgeschlossen sind und bei Jugendlichen von 14 bis 21 Jahren das (vergleichsweise milde) Jugendstrafrecht zur Anwendung kommt, können sich zivilrechtliche Ansprüche bei Sachbeschädigung durch Graffiti hingegen schon ab einem Täteralter von über 7 Jahren ergeben und bis zu 30 Jahre lang eingefordert werden. Zweifellos stellt sich hier die Frage, welchen Sinn Strafmündigkeit und Jugendstrafrecht ergeben, wenn sie durch das Zivilrecht ausgehebelt werden.7)

Inhalt und Umfang von Graffiti als anarchische Kommunikation sind immer auch Widerspiegelungen des Zustandes des aktuellen gesellschaftspolitischen Systems. Insbesondere politische Graffiti manifestieren mit ihren anonymen Botschaften die Bewertung von Tagespolitik und weltanschaulichen Positionen durch die Akteure. Auch deshalb waren Graffiti der ihnen oft ohnmächtig gegenüberstehenden Obrigkeit schon immer ein Dorn im Auge. Bis zurück ins alte Rom lassen sich Versuche der Staatsmacht nachweisen, den Erstellern der unautorisierten Zeichen das Handwerk zu legen.

Mit der Entstehung von Style Writing / American Graffiti seit Ende der 1960er Jahre in US-Großstädten und der nachfolgenden Ausbreitung des Phänomens über den gesamten Globus wurden Graffiti zur weltweiten Massenerscheinung. Sehr früh versuchte die Staatsmacht den „Vandalismus“ durch kompromisslose Bekämpfung und Strafverfolgung zu unterbinden. Ebenfalls wurde sehr früh versucht, die Aktivitäten der meist jugendlichen Sprayer aus – zumindest anfangs – vorwiegend prekären Verhältnissen durch soziale Projekte8) in kontrollierbare Bahnen zu lenken.9)

Die beiden Herangehensweisen (Bekämpfung von Graffiti als Straftat oder Förderung von Graffiti als kulturelle Singularität) sind in verschiedenen Abwandlungen bis heute die Hauptwerkzeuge staatlicher Macht zum Umgang mit Graffiti. Erklärtes Hauptziel beider Ansätze ist dabei die Prävention illegaler Graffiti. Obwohl temporär beide Ansätze durchaus Erfolge zeitigen, erwiesen sie sich langfristig als nicht nachhaltig und führen fast ausnahmslos zur Erhöhung des Aufkommens illegaler und minderwertiger Graffiti.10)11)12)

Graffiti stellen seit Beginn der menschlichen zivilisatorischen Entwicklung einen anarchischen Antipoden zu dieser als singuläre kulturelle Erscheinung dar. Da es keine allgemeingültige und allgemein anerkannte Definition des Begriffs Kunst gibt, ist es müßig, darüber zu streiten, ob Graffiti im klassischen Verständnis Kunst sind oder nicht. Zweifellos lassen sich viele Graffiti als schöpferische Werke je nach Sichtweise formal der Kunst als menschliches kulturelles Produkt zuordnen. Dennoch positionieren sie sich – unabhängig von der Sichtweise – in ihrem originären Selbstverständnis als anarchische grafische Botschaften außerhalb der etablierten Ordnung jenseits der etablierten Kunst. (→ Hauptartikel: Graffiti und die Freiheit der Kunst)

Tatsächlich gab es in der Entstehungsphase des American Graffiti sehr früh Versuche der Kontaktaufnahme zwischen etablierter Kunst und Graffiti. Zweifellos war das Interesse beidseitig, dennoch gingen die entscheidenden Impulse von der etablierten Kunst aus, die – auf der Suche nach neuen Möglichkeiten und Inspirationen – von der in jeder Hinsicht grenzenlosen Freiheit von Graffiti magisch angezogen war. Teile der Graffitiszene erkannten schnell, dass die Flucht unter den konstitutionell geschützten Schirm der Kunstfreiheit eine effektive Strategie im Kampf ums Überleben der oft als Vandalismus bekämpften Bewegung sein könnte.13) Der Hard-Core-Anteil der Szene lehnte eine Zusammenarbeit jedoch ab, da diese nur unter Aufgabe des anarchischen Wesens von Graffiti – und somit nur unter Aufgabe des Selbstverständnisses der Akteure – erfolgen könnte. Tatsächlich ist die Beziehung von Graffiti und Kunst bis heute immer wieder – nach dem Abklingen anfänglicher Euphorie – von Missverständnissen und Enttäuschungen geprägt. Eine weitgehende Zusammenführung der Beiden – obwohl immer wieder versucht – kam bis heute nicht zustande. Weder ist eine Assimilierung der außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung stehenden Graffiti durch die gesellschaftlich verankerten Kunst noch eine Assimilierung der Kunst durch Graffiti möglich, ohne dass der jeweils assimilierte Teil seinen Wesenskern aufgibt und damit aufhört, zu existieren. Temporäres Zusammengehen von Graffiti und etablierter Kunst (oder auch Graffiti und Kommerz)14) ist möglich und wird immer wieder praktiziert, endet aber – aufgrund der Wesensfremde der beiden Parteien – ausnahmslos in Streit, Zerwürfnissen und gegenseitigen Vorwürfen.

Die Bewertung durch die Mehrheit unbeteiligter Bürger ist letztlich und langfristig das entscheidende Kriterium für den Umgang staatlicher Macht mit dem gesellschaftlichen Phänomen Graffiti. Dabei geht es vorrangig um die Frage, ob Graffiti mehrheitlich entweder als ästhetische Bereicherung des Stadtbildes oder als Verschandelung wahrgenommen werden; ob somit Graffiti vom Bürger akzeptiert oder abgelehnt werden. Es geht um die Frage: Wem gehört die Stadt und wer entscheidet über deren Erscheinungsbild15) Die Meinung der Bürger wird dabei – wie auch bei vielen anderen Sachverhalten – von staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen und Aktivisten, politischen und wirtschaftlichen Eliten mitgeprägt und unterliegt somit im Zeitgeist einer gewissen, wenn auch nicht beliebigen, Wandlung.16)

Es erweist sich, dass künstlerisch hochwertige, als ästhetisch empfundene Graffiti an legalen Orten durch den Bürger durchaus als Bereicherung des Stadtbildes wahrgenommen werden. Unabhängig von der ästhetischen Bewertung werden jedoch Graffiti an illegalen Orten mehrheitlich abgelehnt. Die Bürger machen somit ihre Akzeptanz von Graffiti im urbanen Raum – unabhängig von der ästhetischen Wahrnehmung – von deren Legalität abhängig. Selbst künstlerisch hochwertige Graffiti werden an illegalen Orten abgelehnt.17)

Erschwerend bei der Bewertung des o. g. Sachverhalts kommt zum Tragen, dass der „graffitiferne“ Bürger mehrheitlich nicht nach Graffiti im originären Verständnis als anarchische Kommunikationsform auf der einen Seite und autorisierter Street Art, Urban Art und sonstigen graffitiähnlichen Auftragsarbeiten auf der anderen Seite differenziert. Selbst die auf einen Wandgiebel gesprayte Alpenidylle wird unter dem Begriff Graffiti subsummiert. Auch die Protagonisten der graffitiähnlichen Werke haben kein Interesse an der Abgrenzung gegenüber Graffiti im klassischen Sinne. Da sie auf das ästhetische Empfinden kaum Einfluss haben, versuchen sie die Akzeptanz durch die Bürger durch Festlegungen, was legal und was illegal ist, zu prägen.18)


1)
Dr. jur. Christian Grimm stell dazu fest: »Im Falle der Wandparolen kollidieren das Individualrecht der freien Meinungsäußerung […] und das in Art. 14 GG geschützte Eigentumsrecht […] Das Anbringen von Wandparolen an fremden Hauswänden und sonstigen Einrichtungen verletzt zwar fremdes Eigentum, jedoch nicht im Wesenskern. Eine begriffliche Ausgrenzung dieser Aktivitäten aus dem Grundrechtsschutz des Art. 5 Abs. 1 GG ist daher nicht zulässig. Die Begrenzung ergibt sich vielmehr aus den Schrankenbestimmungen des Art. 5 Abs. 2 GG.« – Grimm, Christian: Verfassungsrechtliche und rechtspolitische Anmerkungen zum Phänomen der Wandparolen, Bayer. Verwaltungsblätter, 1984, R. Boorberg, München, S. 134 ff.
2)
Vgl. auch: Halecker, Dela-Madeleine (Verfasser) et al.: Kunst und Strafrecht: eine Reise durch eine schillernde Welt, De Gruyter, Berlin, 2022
3)
Dabei handelt es sich u. a. um religiöse Gegenstände, Grabmäler, Denkmäler, öffentlich zugängliche Kunst und Sammlungen sowie Gegenstände zur Nutzung oder Verschönerung öffentlicher Orte.
4)
Im Falle von § 304 StGB wäre es sogar möglich, dass Täter und Eigentümer der betroffenen Sache identisch sind. Dabei würde es sich dann nicht mehr oder höchstens marginal um ein Eigentumsdelikt handeln.
Das SWR-Fernsehen berichtete in der Landesschau Rheinland-Pfalz am 03.11.2022 18:45 Uhr von einem „Graffiti-Porträt“, das ein Bäcker in Andenken an seinen Vater auf dem im Familienbesitz befindlichen historischen Backofen angebracht hatte. Behördlicherseits wurde hier u. a. eine Gemeinschädliche Sachbeschädigung nach § 304 StGB vorgeworfen, da der historische Backofen, obwohl Eigentum des Bäckers, unter Denkmalschutz stehe.Link zum Video
Weiterhin wäre es sogar denkbar, dass ein unbefugt erstelltes Banksy-Graffito nicht einfach durch den Eigentümer der betroffenen Wand entfernt oder übermalt werden darf, wenn dem Graffito behördlich ein hoher kunsthistorischer Wert zugemessen und öffentliches Interesse an der Unversehrtheit des Graffito nach § 304 StGB festgestellt wird.
5)
2022 wurden deutschlandweit 6.106 Delikte als Gemeinschädliche Sachbeschädigung durch Graffiti und 95.552 als Sachbeschädigung durch Graffiti erfasst. – Quelle: Polizeiliche Kriminalitätsstatistik des BKA: Bund-Falltabellen-T01 Grundtabelle – Fälle, Abruf am 01.05.2023
6)
Ein Grund dafür liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit darin, dass ab Ende der 2000er, Anfang der 2010er Jahre sich der politische Wille zur Verfolgung illegaler Graffiti spürbar abschwächte, was sich auch in der zunehmenden Auflösung der zuvor gebildeten polizeilichen Sondereinheiten manifestierte.
Andererseits brachte die Strafgesetzergänzung neue Schlupflöcher mit sich. Beispielsweise werden unbefugt aufgebrachte, wiederablösbare Aufkleber geringer Größe juristisch oft als nur unerhebliche und nur vorübergehende Änderung des Erscheinungsbildes der betroffene Sache betrachtet, womit sie den Straftatbestand der Sachbeschädigung nicht erfüllen. Viele Akteure nutzen diesen Sachverhalt bewusst aus und verlegten ihr Tätigkeitsgebiet von Spraydose oder Stift hin zum Aufkleber.
7)
Die Hamburger Sozialarbeiterin Barbara Uduwerella stellt dazu fest: »Welchen pädagogischen Nutzen hat das Jugendstrafrecht, wenn die Folgen der Tat ein Schuldtitel (zivilrechtliche Haftung per Urteil m. Vollstreckungstitel) erst bei Volljährigkeit durchgesetzt werden kann, weil der Jugendliche zum Zeitpunkt der Straftat mittellos ist und Eltern nicht haften müssen? Der Jungerwachsene hat vielleicht die Tat längst ausgeblendet, wird aber durch den Schuldtitel und Eintrag bei der Schufa vorab sozial ausgegrenzt?« – Uduwerella, Barbara: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – GRAFFITI SIND CHAMÄLEONS, GENAUSO WIE IHRE ANWENDER, Abruf am 10.12.2022
8)
Hier sind u. a. Flächen zum legalen Sprayen, Auftragsarbeiten, Verkäufe, Ausstellung und Kurse zu nennen.
9)
»Es waren staatlich unterstützte, sozialpädagogische Integrationsprojekte wie die United Graffiti Artists oder später die Nation of Graffiti Artists, die im Rahmen von Stadtteilarbeit Writer versammelten und erste Ausstellungen organisierten. Leinwandverkäufe und Aufträge sollten die kreativen Energien der jugendlichen Writer weg von den Subways und in legale Bahnen lenken.« – Streichholz, Josef: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – GRAFFITI ALS SCHLAUER IDIOT, Abruf am 11.12.2022
10)
Wissenschaftliche Studien weisen nach, dass die Bereitstellung legaler Flächen (oft als Hall/Wall of Fame bezeichnet) das Aufkommen illegaler Graffiti nicht verringert, sondern erhöht: vgl. Sackmann, Reinhold et al.: Graffiti kontrovers – Die Ergebnisse der ersten mitteldeutschen Graffitistudie, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale), 2009, S. 202 und Rheinberg, Falko / Manig, Yvette: Was macht Spaß am Graffiti-Sprayen? Eine induktive Anreizanalyse, 2003, S. 21
11)
»Kopenhagen, Oslo und Helsinki haben schlechte Erfahrungen mit dem Errichten legaler Graffiti-Wände gemacht […] Wir haben aus Erfahrung gelernt, dass diese Wände zur Verbreitung von Graffiti in der ganzen Stadt […] beitragen.« – Søren Pind (damals Bürgermeister für Gebäude und Technik in Kopenhagen) in: Henning, Karl (Hrsg.): NOFITTI 2005 - Erster Internationaler Anti-Graffiti-Kongress Berlin, Universitätsverlag der TU Berlin, Berlin, 2005, S. 43
12)
Als anarchische Botschaften positionieren sich Graffiti vom Selbstverständnis her außerhalb der gesetzlich-moralischen Normen der Gesellschaft. Somit ist einerseits das „Illegale“ Wesensbestandteil von Graffiti und andererseits jeglicher Versuch diese in das etablierte gesellschaftliche Normenkorsett zu pressen um der Selbstaufgabe willen zum Scheitern verurteilt.
13)
Tatsächlich scheint die Berufung einer vom Selbstverständnis her außerhalb des Gesetzes und der etablierten Gesellschaft stehenden Bewegung auf einen gesellschaftlich-gesetzlich fest verankerten Schutzschirm abwegig.
14)
Eine künstlerische und kommerzielle Vereinnahmung von Graffiti und der Akteure findet seit den Anfängen des Style Writing statt. Den Akteuren werden Möglichkeiten zur legalen Betätigung – gelegentlich sogar gegen Bezahlung – geboten, welche von Teilen der Szene – auch aus finanziellen Nöten – durchaus angenommen werden. Oft werden die Akteure dabei ausgenutzt, um Interessen von Kunst und Kommerz umzusetzen. Mittlerweile wird Graffiti sogar genutzt, um die Akzeptanz negativer Seiten der Gentrifizierung durch Artwashing oder Cultural Camouflage zu erhöhen. Siehe dazu auch: Dose gegen Goliath – Killt Kommerz Kunst?, Aus der Reportage-Reihe Schattenwelten des RBB vom 19.07.2023 Link zum Video
15)
Ferrell, Jeff: Crimes of Style. Urban graffiti and the politics of criminality, Northeastern University Press, Boston, 1969, S. 186
16)
Der Autor dieser Zeilen, der auch Graffitiführungen und -vorträge durchführt, erlebt es immer wieder, dass Teilnehmer im Laufe der jeweiligen Veranstaltungen ihre anfängliche generelle Bewertung von Graffiti als Verschandelung und Vandalismus aufgeben, zumindest aber eine differenziertere Sichtweise entwickeln.
17)
Goecke, Tobias / Heise, Marcus in: Sackmann, Reinhold et al.: Graffiti kontrovers – Die Ergebnisse der ersten mitteldeutschen Graffitistudie, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale), 2009, S.99 f.
18)
Goecke, Tobias / Heise, Marcus in: Sackmann et al. (2009), S. 100
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  • von graffitaro