Graffiti und die Freiheit der Kunst
Die Freiheit der Kunst ist in Deutschland ein konstitutionell geschütztes Grundrecht.1) Der Begriff Kunst ist dabei in keine feste Definition gefasst, unterliegt somit keinen grundsätzlichen Einschränkungen und genießt damit eine besonders weitreichende Freiheit.
Die Grenzen der Kunstfreiheit werden dort gesetzt, wo sie mit anderen Grundrechten, die im Kontext als höherwertig eingestuft werden, kollidieren. Diese Grenzen sind somit im Rahmen der gesetzlichen Regelungen definiert, im Zweifelsfall entscheiden Gerichte darüber.
Die Frage „Wie weit darf Kunst2) gehen?“ stellt sich somit in einem Rechtsstaat wie Deutschland nicht. Wird sie dennoch gestellt, hat dies meist Gründe in den weltanschaulichen Positionen der Fragesteller, denen subjektiv die Freiheit der Kunst in einem spezifischen Kontext entweder zu weit oder nicht weit genug geht. Da jegliches menschliches Handeln gesetzlichen Regelungen unterworfen ist, welche sich im Rahmen des Zeitgeistes durch wandelnde gesellschaftlich-moralische Mehrheitsansichten ändern können, verschieben sich im historischen Maßstab auch die Grenzen der Kunstfreiheit. Mit der Frage „Wie weit darf Kunst gehen?“ soll dabei die aktuelle moralische Verfassung der Gesellschaft ausgelotet oder deren Verschiebung angeregt werden. Somit stellt sich die Frage nach den Grenzen der Kunstfreiheit auch aus moralischer Sicht nicht, da eine Neujustierung der moralischen Position einer Gesellschaft ohne Grenzüberschreitungen schlichtweg unmöglich ist.3)
Bei Graffiti, die auf fremdem Eigentum unautorisiert erstellt werden, kollidiert meist das konstitutionell geschützte Grundrecht auf freie Meinungsäußerung – oder, je nach Betrachtungsweise, das Grundrecht auf Freiheit der Kunst – mit dem ebenfalls konstitutionell geschützten Grundrecht auf Eigentum. Die aktuelle Rechtsprechung billigt – bei Erfüllung des Straftatbestands der Sachbeschädigung – regelmäßig dem Grundrecht auf Eigentum einen höheren Stellenwert zu.4) Diese Bewertung kann sich im Zuge des gesellschaftlichen Wandels ändern und ist somit nicht generell und für alle Zeiten festgeschrieben.
Im klassischen Sinne stellen Graffiti eine anarchische Kommunikationsform dar, die graphische Botschaften mit dem Anspruch der Wahrnehmung durch andere unter Umgehung des gesetzlich-moralischen Normenkorsetts der Gesellschaft verbreitet.5) Beim Style Writing – der heute dominanten Erscheinungsform von Graffiti – bestehen diese Botschaften originär lediglich im Namen (Pseudonym) der Akteure. Darüber hinaus können Graffiti auch Botschaften mit politischen, weltanschaulichen, kulturellen, zwischenmenschlichen, kriminellen und beliebigen anderen Inhalten aufweisen.6)
Geht es nunmehr um die Grenzen der Kunstfreiheit mit Bezug zu Graffiti, sollte zuvorderst geklärt werden, ob sich Graffiti überhaupt in die Kategorie Kunst (in der sie sich selbst originär nicht oder höchstens am Rande sahen)7) 8) einordnen lassen. Dabei lässt sich nicht vermeiden, den vom Gesetzgeber absichtlich offen gelassenen Begriff Kunst zumindest analytisch einzugrenzen, da er anderenfalls beliebig anwendbar wäre.9) Ohne sich auf eine Fortführung des müßigen Diskurses über eine Definition von Kunst einzulassen und unter Vernachlässigung des handwerklichen Niveaus und ästhetischer Maßstäbe soll hier als Kunstwerk verstanden werden, was in einem schöpferischen menschlichen Prozess entsteht und außer sich selbst kommunikativ zu vermitteln keine weiteren eindeutig zuordenbaren Funktionen innehat. Dies ist zunächst eine rein akademische Eingrenzung, unabhängig von gesetzlichen und moralischen gesellschaftlichen Vorgaben. Selbst in diesem eng gefassten Verständnis von Kunst lassen sich die meisten Tags, Throw-Ups, Pieces und Characters im Rahmen des Style Writing durchaus als Kunst einordnen, da sie zweifellos schöpferische Kreationen darstellen und außer sich selbst in Form von Namen und ggf. figürlichen Elementen nichts weiter vermitteln.
Bevor nun betrachtet wird, ob Graffiti auch im Geiste des Grundgesetzes unter den konstitutionellen Schutzschirm der Kunstfreiheit zu stellen sind, soll zunächst auf das Verhältnis von Graffiti und etablierter Kunst näher eingegangen werden. Die Analyse wird dabei auf das Szene-Graffiti eingegrenzt, da dies fast ausnahmslos gemeint ist, wenn die Frage „Wie weit darf Kunst im Kontext Graffiti gehen?“ gestellt wird.
Das heutige Szene-Graffiti hat seine Wurzeln im Style Writing, das Ende der 1960er Jahre in amerikanischen Großstädten mit Schwerpunkt New York entstand und sich später zur globalen Bewegung entwickelte. Jugendliche aus prekären Verhältnissen lebten ihren Geltungsdrang aus, indem sie ihre Namen als Pseudonyme mit Stiften möglichst oft an die Wände ihrer Wohngegend schrieben. Bald erkannten sie die Spraydose als geeignetes Werkzeug, breiteten sich über die gesamte Stadt aus und ließen auch die öffentlichen Transportmittel als ideales Verbreitungsmedium nicht verschont. Es entbrannte ein Wettbewerb unter den Akteuren um die meisten und spektakulärsten Hits an den ultimativsten Orten. Es genügte nun nicht mehr, einfach seinen Namen möglichst oft an die Wand zu schreiben: aufwändig kalligrafisch gestaltete Buchstabenketten in immer ausgefalleneren Stilarten an den unmöglichsten Orten mussten her.
Die Staatsmacht fand keinen Gefallen an diesem „Vandalismus“ und sagte den unautorisiert erstellten Zeichen den Kampf an. Sehr früh gab es auch staatlich geförderte Projekte, in denen Sozialarbeiter versuchten, die Jugendlichen von der Straße weg zu holen und deren Enthusiasmus in gesetzeskonforme Aktivitäten umzulenken. Im Rahmen dieser Projekte wurden legale Wände bereitgestellt, Ausstellungen organisiert, Leinwände verkauft und Auftragsarbeiten akquiriert.10)
Später, als die Null-Toleranz-Politik temporär sichtbare Resultate zeitigte, sahen einige schon das Ende der noch jungen Writing-Bewegung. Als mögliche Rettung im Überlebenskampf wurde von Teilen der Szene die Flucht unter den konstitutionell geschützten Schirm der etablierten Kunst erkannt. Letztere hatte – auf der Suche nach neuen Inspirationen – schon lange ein Auge auf das Style Writing geworfen, verkörperte es doch Kreativität ohne einengende Vorgaben, ohne Zugangsschranken und ohne ökonomische Zwänge.11) Der Kunstbetrieb lockte mit seinen Ressourcen: Galerien, Ateliers, Kurse, Netzwerke, Förder- und Vermarktungsmöglichkeiten. Somit fand die Annäherung von Graffiti-Szene und etablierter Kunst durch beidseitigen Antrieb statt, wenngleich letztere zweifellos die treibende Kraft darstellte.12) Spätestens Anfang der 1980er Jahre wurden Graffiti mitunter bereits als legitime Kunstbewegung gesehen, die die nächste Stufe ihrer Entwicklung erreicht und ihre Illegalität überwunden hatte.13) Graffiti fanden ihren Weg in namhafte Galerien und zur Beschreibung dieser Entwicklung wurde der Begriff Post-Graffiti geprägt. Was heute unter dem Begriff Street Art subsumiert wird, entstand zweifellos ebenfalls im Bestreben der Entkriminalisierung von Graffiti.14) Auch wenn Street Art und graffitinahe Bestandteile von Urban Art eine Entwicklung eingeschlagen haben, die jenseits von Graffiti im originären Verständnis anzusiedeln ist, kann Street Art dennoch mit Fug und Recht als Kind von Graffiti bezeichnet werden.15) Einher mit der damaligen Entwicklung gingen Verklärungs-, Legitimierungs- und Glorifizierungsversuche, die Graffiti in ein altruistisch-romantisches Licht rücken sollten und bis heute nachwirken.16) 17)
In der Writing-Szene fand diese Annäherung an die etablierte Kunst nicht nur Befürworter. Ein Teil der Akteure lehnte diese vehement ab, da sie damit die Aufgabe ihres Wesenskerns, ihrer Exklusivität und Ungebundenheit befürchteten. Ein weiterer Teil der Writer nahm die gebotenen Möglichkeiten wie Auftragsarbeiten, legale Wände etc. scheinbar dankend an, frönte aber des Nachts weiterhin der geliebten illegalen Passion.18) Auch mancher Kuratorin wurde angst und bange, als sie feststellte, dass sich die wilden Zeichen nicht wie erhofft bändigen ließen und das Ausstellungsgebäude eines morgens plötzlich auch von außen verzierten. In der Tat ist weder eine Assimilation von Graffiti in die etablierte Kunst noch die Assimilation von etablierter Kunst in die Graffiti-Szene möglich, ohne dass der assimilierte Teil seine Existenz aufgibt. Der anarchischen Kommunikationsform Graffiti, die vom Selbstverständnis her weder an gesetzliche noch moralische Vorgaben gebunden ist, steht der gesellschaftlich integrierte und staatlich geförderte Komplex der etablierten Kunst, der ohne Einhaltung zumindest elementarer gesetzlich-moralischer Vorgaben gar nicht lebensfähig wäre, gegenüber. Eine Zusammenführung dieser Gebilde ohne beidseitige Aufgabe von Wesenselementen ist dauerhaft schlichtweg nicht möglich.
Das originäre anarchische Selbstverständnis von Graffiti beinhaltet, dass es sich selbst generell keinerlei Grenzen auferlegt. Es kümmert sich nicht um Gesetz und Moral, kann sich allerdings auch nicht den gesetzlichen und moralischen Konsequenzen des real existierenden gesellschaftlichen Systems entziehen. Graffiti sind wie Desperados, die sich nicht um den Sheriff scheren, auf dessen Kugeln aber dennoch gefasst sein müssen. Vielen Szene-Akteuren ist dieses Dilemma durchaus bewusst. Zur Risikominimierung und moralischen Eigenlegitimierung setzen sie sich selbst Grenzen ihres Handelns, die sie in einen Kodex fassen. Allerdings unterliegen die selbstgesteckten Grenzen und die Willensstärke zu deren Einhaltung erheblichen Schwankungen. Während für Writer aus Stockholm Kirchen, Einfamilienhäuser und Privatautos tabu sind, zucken Berliner Akteure bei der Frage nach ihren Grenzen nur verständnislos mit den Schultern.19) Erfurter Sprayer machen selbst vor dem berühmtesten Kulturdenkmal der Stadt nicht halt.20)
Mit ihrem anarchischen Selbstverständnis positionieren sich Graffiti bewusst außerhalb des vorgegebenen gesetzlichen gesellschaftlichen Rahmens. Das Grundrecht auf Kunstfreiheit mit seinen besonders weitreichenden Zugeständnissen kann seine Wirkung jedoch nur innerhalb dieses Rahmens entfalten und setzt dessen Anerkennung im Kontext der künstlerischen Betätigung voraus. Es erscheint absurd, den konstitutionellen Schutzschirm der Kunstfreiheit aus einer Position außerhalb des Gesetzes in Anspruch nehmen zu wollen. In diesem Zusammenhang versagt die aktuelle Rechtsprechung unmissverständlich die Ausdehnung der Kunstfreiheit auf die unautorisierte Beeinträchtigung fremden Eigentums.21)
Erfolgt die Graffitierstellung hingegen im legalen Kontext, fallen die oben genannten Einschränkung weg und die Regelungen zur Kunstfreiheit kommen zur Anwendung. Nur handelt es sich dabei dann nicht mehr um Graffiti im klassischen Sinne, sondern um graffitiähnliche Werke oder „Post-Graffiti“, auch wenn sie wie Graffiti aussehen und umgangssprachlich als Graffiti bezeichnet werden. Gelegentlich ist in diesem Kontext in der Szene sogar der Vorwurf der kulturellen Preisgabe bzw. – je nach Betrachtungswinkel – der kulturellen Aneignung zu vernehmen.22)
Heute finden Graffiti nur noch selten den Zugang zu namhaften Kunstausstellungen.23) Dennoch gibt es immer wieder Versuche der Annäherung von Graffiti und etablierter Kunst, die – in der Hoffnung auf Prävention illegaler Graffiti – oft staatlich gefördert werden. Treibende Kräfte hinter diesen Annäherungsversuchen sind meist Szene-Veteranen oder Akteure, die bereits einen gewissen gesellschaftlichen Sozialisierungsprozess durchlaufen haben und ihre frühere anarchische Tätigkeit nunmehr differenzierter betrachten, jedoch nicht gänzlich aufgeben wollen.24) 25) Dabei geht es oft vorrangig um Forderungen nach legalen Flächen und Auftragsarbeiten.26)
Ein Gang durch die Großstadt oder ein Blick in die polizeiliche Kriminalitätsstatistik stellen jedoch unmissverständlich klar, dass es an Hard-Core-Nachwuchs (der sich wenig um die späten Einsichten der Altvorderen schert) nicht mangelt und sich Graffiti weder durch konsequente Bekämpfung abschaffen noch durch Anbiederungsversuche des Systems assimilieren ließen.27) Die unautorisiert bemalten Wände waren, sind und bleiben auf absehbare Zeit der originäre Lebensraum von Graffiti. Wie lange die – mit gut 50 Jahren – noch relativ junge Erscheinungsform Style Writing noch dominieren wird, kann heute niemand seriös voraussagen. Graffiti als jahrtausendaltes kulturelles Phänomen werden jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht so bald ihre Existenz aufgeben. Wer Graffiti als Problem sieht, sollte nicht weiter auf Bekämpfungs- und Assimilierungsversuche (die nicht nur regelmäßig scheitern, sondern meist auch das Gegenteil der ursprünglichen Absicht bewirken) setzen, sondern jenseits von Ablehnung und Befürwortung eine nachhaltige Strategie des Umgangs entwickeln und verfolgen.