Graffiti und die Freiheit der Kunst

Die Freiheit der Kunst ist in Deutschland ein konstitutionell geschütztes Grundrecht.1) Der Begriff Kunst ist dabei in keine feste Definition gefasst, unterliegt somit keinen grundsätzlichen Einschränkungen und genießt damit eine besonders weitreichende Freiheit.

Die Grenzen der Kunstfreiheit werden dort gesetzt, wo sie mit anderen Grundrechten, die im Kontext als höherwertig eingestuft werden, kollidieren. Diese Grenzen sind somit im Rahmen der gesetzlichen Regelungen definiert, im Zweifelsfall entscheiden Gerichte darüber.

Die Frage „Wie weit darf Kunst2) gehen?“ stellt sich somit in einem Rechtsstaat wie Deutschland nicht. Wird sie dennoch gestellt, hat dies meist Gründe in den weltanschaulichen Positionen der Fragesteller, denen subjektiv die Freiheit der Kunst in einem spezifischen Kontext entweder zu weit oder nicht weit genug geht. Da jegliches menschliches Handeln gesetzlichen Regelungen unterworfen ist, welche sich im Rahmen des Zeitgeistes durch wandelnde gesellschaftlich-moralische Mehrheitsansichten ändern können, verschieben sich im historischen Maßstab auch die Grenzen der Kunstfreiheit. Mit der Frage „Wie weit darf Kunst gehen?“ soll dabei die aktuelle moralische Verfassung der Gesellschaft ausgelotet oder deren Verschiebung angeregt werden. Somit stellt sich die Frage nach den Grenzen der Kunstfreiheit auch aus moralischer Sicht nicht, da eine Neujustierung der moralischen Position einer Gesellschaft ohne Grenzüberschreitungen schlichtweg unmöglich ist.3)

Bei Graffiti, die auf fremdem Eigentum unautorisiert erstellt werden, kollidiert meist das konstitutionell geschützte Grundrecht auf freie Meinungsäußerung – oder, je nach Betrachtungsweise, das Grundrecht auf Freiheit der Kunst – mit dem ebenfalls konstitutionell geschützten Grundrecht auf Eigentum. Die aktuelle Rechtsprechung billigt – bei Erfüllung des Straftatbestands der Sachbeschädigung – regelmäßig dem Grundrecht auf Eigentum einen höheren Stellenwert zu.4) Diese Bewertung kann sich im Zuge des gesellschaftlichen Wandels ändern und ist somit nicht generell und für alle Zeiten festgeschrieben.

Im klassischen Sinne stellen Graffiti eine anarchische Kommunikationsform dar, die graphische Botschaften mit dem Anspruch der Wahrnehmung durch andere unter Umgehung des gesetzlich-moralischen Normenkorsetts der Gesellschaft verbreitet.5) Beim Style Writing – der heute dominanten Erscheinungsform von Graffiti – bestehen diese Botschaften originär lediglich im Namen (Pseudonym) der Akteure. Darüber hinaus können Graffiti auch Botschaften mit politischen, weltanschaulichen, kulturellen, zwischenmenschlichen, kriminellen und beliebigen anderen Inhalten aufweisen.6)

Geht es nunmehr um die Grenzen der Kunstfreiheit mit Bezug zu Graffiti, sollte zuvorderst geklärt werden, ob sich Graffiti überhaupt in die Kategorie Kunst (in der sie sich selbst originär nicht oder höchstens am Rande sahen)7) 8) einordnen lassen. Dabei lässt sich nicht vermeiden, den vom Gesetzgeber absichtlich offen gelassenen Begriff Kunst zumindest analytisch einzugrenzen, da er anderenfalls beliebig anwendbar wäre.9) Ohne sich auf eine Fortführung des müßigen Diskurses über eine Definition von Kunst einzulassen und unter Vernachlässigung des handwerklichen Niveaus und ästhetischer Maßstäbe soll hier als Kunstwerk verstanden werden, was in einem schöpferischen menschlichen Prozess entsteht und außer sich selbst kommunikativ zu vermitteln keine weiteren eindeutig zuordenbaren Funktionen innehat. Dies ist zunächst eine rein akademische Eingrenzung, unabhängig von gesetzlichen und moralischen gesellschaftlichen Vorgaben. Selbst in diesem eng gefassten Verständnis von Kunst lassen sich die meisten Tags, Throw-Ups, Pieces und Characters im Rahmen des Style Writing durchaus als Kunst einordnen, da sie zweifellos schöpferische Kreationen darstellen und außer sich selbst in Form von Namen und ggf. figürlichen Elementen nichts weiter vermitteln.

Bevor nun betrachtet wird, ob Graffiti auch im Geiste des Grundgesetzes unter den konstitutionellen Schutzschirm der Kunstfreiheit zu stellen sind, soll zunächst auf das Verhältnis von Graffiti und etablierter Kunst näher eingegangen werden. Die Analyse wird dabei auf das Szene-Graffiti eingegrenzt, da dies fast ausnahmslos gemeint ist, wenn die Frage „Wie weit darf Kunst im Kontext Graffiti gehen?“ gestellt wird.

Das heutige Szene-Graffiti hat seine Wurzeln im Style Writing, das Ende der 1960er Jahre in amerikanischen Großstädten mit Schwerpunkt New York entstand und sich später zur globalen Bewegung entwickelte. Jugendliche aus prekären Verhältnissen lebten ihren Geltungsdrang aus, indem sie ihre Namen als Pseudonyme mit Stiften möglichst oft an die Wände ihrer Wohngegend schrieben. Bald erkannten sie die Spraydose als geeignetes Werkzeug, breiteten sich über die gesamte Stadt aus und ließen auch die öffentlichen Transportmittel als ideales Verbreitungsmedium nicht verschont. Es entbrannte ein Wettbewerb unter den Akteuren um die meisten und spektakulärsten Hits an den ultimativsten Orten. Es genügte nun nicht mehr, einfach seinen Namen möglichst oft an die Wand zu schreiben: aufwändig kalligrafisch gestaltete Buchstabenketten in immer ausgefalleneren Stilarten an den unmöglichsten Orten mussten her.

Die Staatsmacht fand keinen Gefallen an diesem „Vandalismus“ und sagte den unautorisiert erstellten Zeichen den Kampf an. Sehr früh gab es auch staatlich geförderte Projekte, in denen Sozialarbeiter versuchten, die Jugendlichen von der Straße weg zu holen und deren Enthusiasmus in gesetzeskonforme Aktivitäten umzulenken. Im Rahmen dieser Projekte wurden legale Wände bereitgestellt, Ausstellungen organisiert, Leinwände verkauft und Auftragsarbeiten akquiriert.10)

Später, als die Null-Toleranz-Politik temporär sichtbare Resultate zeitigte, sahen einige schon das Ende der noch jungen Writing-Bewegung. Als mögliche Rettung im Überlebenskampf wurde von Teilen der Szene die Flucht unter den konstitutionell geschützten Schirm der etablierten Kunst erkannt. Letztere hatte – auf der Suche nach neuen Inspirationen – schon lange ein Auge auf das Style Writing geworfen, verkörperte es doch Kreativität ohne einengende Vorgaben, ohne Zugangsschranken und ohne ökonomische Zwänge.11) Der Kunstbetrieb lockte mit seinen Ressourcen: Galerien, Ateliers, Kurse, Netzwerke, Förder- und Vermarktungsmöglichkeiten. Somit fand die Annäherung von Graffiti-Szene und etablierter Kunst durch beidseitigen Antrieb statt, wenngleich letztere zweifellos die treibende Kraft darstellte.12) Spätestens Anfang der 1980er Jahre wurden Graffiti mitunter bereits als legitime Kunstbewegung gesehen, die die nächste Stufe ihrer Entwicklung erreicht und ihre Illegalität überwunden hatte.13) Graffiti fanden ihren Weg in namhafte Galerien und zur Beschreibung dieser Entwicklung wurde der Begriff Post-Graffiti geprägt. Was heute unter dem Begriff Street Art subsumiert wird, entstand zweifellos ebenfalls im Bestreben der Entkriminalisierung von Graffiti.14) Auch wenn Street Art und graffitinahe Bestandteile von Urban Art eine Entwicklung eingeschlagen haben, die jenseits von Graffiti im originären Verständnis anzusiedeln ist, kann Street Art dennoch mit Fug und Recht als Kind von Graffiti bezeichnet werden.15) Einher mit der damaligen Entwicklung gingen Verklärungs-, Legitimierungs- und Glorifizierungsversuche, die Graffiti in ein altruistisch-romantisches Licht rücken sollten und bis heute nachwirken.16) 17)

In der Writing-Szene fand diese Annäherung an die etablierte Kunst nicht nur Befürworter. Ein Teil der Akteure lehnte diese vehement ab, da sie damit die Aufgabe ihres Wesenskerns, ihrer Exklusivität und Ungebundenheit befürchteten. Ein weiterer Teil der Writer nahm die gebotenen Möglichkeiten wie Auftragsarbeiten, legale Wände etc. scheinbar dankend an, frönte aber des Nachts weiterhin der geliebten illegalen Passion.18) Auch mancher Kuratorin wurde angst und bange, als sie feststellte, dass sich die wilden Zeichen nicht wie erhofft bändigen ließen und das Ausstellungsgebäude eines morgens plötzlich auch von außen verzierten. In der Tat ist weder eine Assimilation von Graffiti in die etablierte Kunst noch die Assimilation von etablierter Kunst in die Graffiti-Szene möglich, ohne dass der assimilierte Teil seine Existenz aufgibt. Der anarchischen Kommunikationsform Graffiti, die vom Selbstverständnis her weder an gesetzliche noch moralische Vorgaben gebunden ist, steht der gesellschaftlich integrierte und staatlich geförderte Komplex der etablierten Kunst, der ohne Einhaltung zumindest elementarer gesetzlich-moralischer Vorgaben gar nicht lebensfähig wäre, gegenüber. Eine Zusammenführung dieser Gebilde ohne beidseitige Aufgabe von Wesenselementen ist dauerhaft schlichtweg nicht möglich.

Das originäre anarchische Selbstverständnis von Graffiti beinhaltet, dass es sich selbst generell keinerlei Grenzen auferlegt. Es kümmert sich nicht um Gesetz und Moral, kann sich allerdings auch nicht den gesetzlichen und moralischen Konsequenzen des real existierenden gesellschaftlichen Systems entziehen. Graffiti sind wie Desperados, die sich nicht um den Sheriff scheren, auf dessen Kugeln aber dennoch gefasst sein müssen. Vielen Szene-Akteuren ist dieses Dilemma durchaus bewusst. Zur Risikominimierung und moralischen Eigenlegitimierung setzen sie sich selbst Grenzen ihres Handelns, die sie in einen Kodex fassen. Allerdings unterliegen die selbstgesteckten Grenzen und die Willensstärke zu deren Einhaltung erheblichen Schwankungen. Während für Writer aus Stockholm Kirchen, Einfamilienhäuser und Privatautos tabu sind, zucken Berliner Akteure bei der Frage nach ihren Grenzen nur verständnislos mit den Schultern.19) Erfurter Sprayer machen selbst vor dem berühmtesten Kulturdenkmal der Stadt nicht halt.20)

Mit ihrem anarchischen Selbstverständnis positionieren sich Graffiti bewusst außerhalb des vorgegebenen gesetzlichen gesellschaftlichen Rahmens. Das Grundrecht auf Kunstfreiheit mit seinen besonders weitreichenden Zugeständnissen kann seine Wirkung jedoch nur innerhalb dieses Rahmens entfalten und setzt dessen Anerkennung im Kontext der künstlerischen Betätigung voraus. Es erscheint absurd, den konstitutionellen Schutzschirm der Kunstfreiheit aus einer Position außerhalb des Gesetzes in Anspruch nehmen zu wollen. In diesem Zusammenhang versagt die aktuelle Rechtsprechung unmissverständlich die Ausdehnung der Kunstfreiheit auf die unautorisierte Beeinträchtigung fremden Eigentums.21)

Erfolgt die Graffitierstellung hingegen im legalen Kontext, fallen die oben genannten Einschränkung weg und die Regelungen zur Kunstfreiheit kommen zur Anwendung. Nur handelt es sich dabei dann nicht mehr um Graffiti im klassischen Sinne, sondern um graffitiähnliche Werke oder „Post-Graffiti“, auch wenn sie wie Graffiti aussehen und umgangssprachlich als Graffiti bezeichnet werden. Gelegentlich ist in diesem Kontext in der Szene sogar der Vorwurf der kulturellen Preisgabe bzw. – je nach Betrachtungswinkel – der kulturellen Aneignung zu vernehmen.22)

Heute finden Graffiti nur noch selten den Zugang zu namhaften Kunstausstellungen.23) Dennoch gibt es immer wieder Versuche der Annäherung von Graffiti und etablierter Kunst, die – in der Hoffnung auf Prävention illegaler Graffiti – oft staatlich gefördert werden. Treibende Kräfte hinter diesen Annäherungsversuchen sind meist Szene-Veteranen oder Akteure, die bereits einen gewissen gesellschaftlichen Sozialisierungsprozess durchlaufen haben und ihre frühere anarchische Tätigkeit nunmehr differenzierter betrachten, jedoch nicht gänzlich aufgeben wollen.24) 25) Dabei geht es oft vorrangig um Forderungen nach legalen Flächen und Auftragsarbeiten.26)

Ein Gang durch die Großstadt oder ein Blick in die polizeiliche Kriminalitätsstatistik stellen jedoch unmissverständlich klar, dass es an Hard-Core-Nachwuchs (der sich wenig um die späten Einsichten der Altvorderen schert) nicht mangelt und sich Graffiti weder durch konsequente Bekämpfung abschaffen noch durch Anbiederungsversuche des Systems assimilieren ließen.27) Die unautorisiert bemalten Wände waren, sind und bleiben auf absehbare Zeit der originäre Lebensraum von Graffiti. Wie lange die – mit gut 50 Jahren – noch relativ junge Erscheinungsform Style Writing noch dominieren wird, kann heute niemand seriös voraussagen. Graffiti als jahrtausendaltes kulturelles Phänomen werden jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht so bald ihre Existenz aufgeben. Wer Graffiti als Problem sieht, sollte nicht weiter auf Bekämpfungs- und Assimilierungsversuche (die nicht nur regelmäßig scheitern, sondern meist auch das Gegenteil der ursprünglichen Absicht bewirken) setzen, sondern jenseits von Ablehnung und Befürwortung eine nachhaltige Strategie des Umgangs entwickeln und verfolgen.


1)
Die Kunstfreiheit wird durch Art. 5 Absatz 3 GG geschützt. Der Wortlaut des entsprechenden Absatzes wurde seit Inkrafttreten des Grundgesetzes noch nie geändert und lautet: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.«
2)
Die folgenden Aussagen gelten sinngemäß auch für die anderen konstitutionell geschützten Grundrechte, i. E. Wissenschaft, Forschung und Lehre.
3)
Heinrich Böll sagte dazu in seiner Wuppertaler Rede: »Kunst [ist] die einzig erkennbare Erscheinungsform der Freiheit auf dieser Erde. [Sie ist frei] von Natur [.] Gegebene Freiheit ist für sie keine, nur die, die sie hat, ist oder sich nimmt. […] Wie weit sie gehen darf oder hätte gehen dürfen, kann ihr ohnehin niemand sagen; sie muß also zu weit gehen, um herauszufinden, wie weit sie gehen darf.« – Böll, Heinrich: Die Freiheit der Kunst: Wuppertaler Rede, Edition Voltaire, Berlin, 1966
4) , 21)
Vgl. Halecker, Dela-Madeleine (Verfasser) et al.: Kunst und Strafrecht: eine Reise durch eine schillernde Welt, De Gruyter, Berlin, 2022
5)
Vgl. GRAFFITI INTERDISZIPLINÄR, Hauptartikel Graffiti: Definition, Abruf am 12.01.2023
6)
Vgl. GRAFFITI INTERDISZIPLINÄR, Hauptartikel Graffiti: Unterteilung, Abruf am 12.01.2023
7)
»Am Anfang des Malens [i. S. v. Style Writing] steht nie Kunst. Am Anfang steht immer das Kid, das sich irgendwie artikulieren will. Das irgendwo ein gelungenes Piece gesehen hat und sich denkt: Das muss ich auch mal probier'n. Meistens hat es sich damit dann schon erledigt, weil da nur Toys rauskommen. Manchmal kommt aber auch ein neues Talent zum Vorschein. […] Wenn die dann das erste Mal echten Fame gespürt haben, fallen sie auch irgendwann auf die Geier rein, die über uns kreisen und die die neuen Kings eigentlich nur für ihre eigenen Zwecke ausnutzen wollen. Kann sein, dass die sich dann für Künstler halten und glauben, mit ihren Pieces die Welt verändern oder ordentlich Kohle machen [zu können].« – 7616/NVD, Interview im Clash, Berlin, 2018
8)
»[…] und vor allem stehen sie [die Graffiti] jenseits von Ideologien und Kunst.« – Baudrillard, Jean: KOOL KILLER oder Der Aufstand der Zeichen, Merve Verlag, Berlin, 1978, S. 37
9)
In diesem Zusammenhang sei hingewiesen auf den Erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys, der jegliches kreative menschliche Handeln einschließt, das zum „Wohl“ der Gesellschaft verändernd auf diese einwirkt. Vgl. Beuys, Joseph (Verfasser) et al.: Joseph Beuys im Gespräch mit Knut Fischer und Walter Smerling, Kiepenheuer u. Witsch, Köln, 1989
10)
»Es waren staatlich unterstützte, sozialpädagogische Integrationsprojekte wie die United Graffiti Artists oder später die Nation of Graffiti Artists, die im Rahmen von Stadtteilarbeit Writer versammelten und erste Ausstellungen organisierten. Leinwandverkäufe und Aufträge sollten die kreativen Energien der jugendlichen Writer weg von den Subways und in legale Bahnen lenken. […] Es ist also durchaus berechtigt zu sagen, dass die früheste Verknüpfung von Graffiti und Kunst im engeren Sinne […] im Zeichen sozialpädagogischer Armuts- und Kriminalitätsbekämpfung stattfand.« – Streichholz, Josef: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – GRAFFITI ALS SCHLAUER IDIOT, Abruf am 11.12.2022
11)
Tobias Barenthin Lindblad stellt dazu fest, dass die etablierte Kunst bis heute nicht verstanden hat, dass das Wesen von Graffiti jenseits von Kunst liegt und macht als Ursache dafür die fehlende wissenschaftliche Aufarbeitung von Graffiti aus: »Kurz nach dem Durchbruch vom Punk kamen die ersten wissenschaftlichen Theorien darüber. Nach fast fünfzig Jahren gibt es immer noch keine entwickelte Theorie über Graffiti. Dies mag der Grund sein, warum die zeitgenössische Kunst es so verzweifelt schwer hat, Graffiti zu verstehen. Gleichzeitig ist es sicher, wie Jacob Kimvall sagt, dass die Kunst Graffiti eher braucht als umgekehrt. Der Graffitibewegung geht es auf eigene Faust ganz gut.« - Lindblad, Tobias Barenthin: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – TOD UND LEBEN VON GRAFFITI, Abruf am 23.11.2022
12)
»Die Vernetzungen, die sich in diesem Milieu ergaben, gingen in sehr verschiedene Richtungen. Einerseits waren sich Graffiti, Kunst und Politik nie so nahe wie hier, andererseits weitete sich Graffiti mit diesen Ressourcen bis in die kommerzielle Kunstszene und in kulturindustrielle Formate wie Kinofilme aus. Über Fashion Moda kamen Lee und Basquiat 1982 zur Documenta 7 nach Kassel; Charlie Ahearns bei Colab genutzte Filmskills ermöglichten Style Wars. Die Ausstellungen im New Museum, im Mudd Club, im PS.1 oder White Columns weckten den Appetit der kommerziellen Galerien wie Barbara Gladstone, Tony Shafrazi oder Sidney Janis; sie öffneten die Türen europäischer Museen, und die prominente Szene von Galerie-Writern ließ kommerzielle Gelegenheitsgalerien wie Patti Astors Fun Gallery entstehen. Den Writern lagen am Ende, so kann man heute zusammenfassen, die alternative Kunstszene und deren politkünstlerische Konzepte deutlich weniger am Herzen als umgekehrt. Die breiten Produktions- und Publikationsmittel, die nun einigen Writern zur Verfügung standen, führten zu einer Anpassung an die Regeln des kommerziellen Kunstmarkts und der kulturindustriellen Vermarktung, die bis heute in der absurden Folklore des Graffiti-Merchandise zu erleben ist.« – Streichholz, Josef: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – GRAFFITI ALS SCHLAUER IDIOT, Abruf am 11.12.2022
13)
»Besonders mit Sidney Janis‘ Ausstellung Post-Graffiti 1983 […] verband sich die Behauptung, dass Graffiti nun eine legitime Kunst-Bewegung unter anderen sei, die als nächsthöhere Stufe das überwand und obsolet machte, was ihr auf den Subways und Straßen vorangegangen war. […] Verkauft wurden zwar individuelle Arbeiten, die aber für die Kunstwelt kaum mehr waren als bloße Träger des symbolischen Kapitals der Straßenbewegung.« – Streichholz, Josef: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – GRAFFITI ALS SCHLAUER IDIOT, Abruf am 11.12.2022
14)
»Street Art als Bewegung hat sich als Reaktion auf die Kriminalisierung von Graffiti und die harte Hand der Polizei entwickelt, aber sie markiert auch den Übergang vom jugendlichen Scherz zum reifen Kunstschaffen« – Armstrong, Simon: Street Art, Midas Verlag AG, Zürich, 2022, S. 11
15)
»Auch Street Art ist ein schwammiger Begriff [… und es] ist oft schwierig, sie von ihren […] Wurzeln zu trennen: Sie widersetzt sich Regeln, stellt Kategorien in Frage und lehnt das Gesetz ab. Obwohl sich Künstler wie Jenny Holzer, Gordon Matta-Clark und Sol LeWitt selbst nie als Graffiti-Künstler bezeichnen würden, haben sie klare Verbindungen zur Graffiti-Tradition. Die Street Art steht für sich selbst, mit ihren eigenen Materialien und Methoden, aber sie bleibt immer ein Kind des Graffiti.« – Armstrong, Simon: Street Art, Midas Verlag AG, Zürich, 2022, S. 11
16)
Frühe Bildbände von Martha Cooper und Henry Chalfant trugen wesentlich zu dieser Verklärung bei (vgl. Cooper, Martha / Chalfant, Henry: Subway Art, Thames and Hudson, London, 1984; Chalfant, Henry / Prigoff, James : Spraycan Art, Thames and Hudson, London, 1987). In der Tat entsteht beim Durchblättern von Subway Art für den unbedarften Leser der Eindruck, die Graffiti-Szene sei eine familiäre Gemeinschaft, in deren Rahmen sich 3 Uhr nachmittags Paare aus der Nachbarschaft beim Kaffeekränzchen treffen und dabei die Aktivitäten für den mitternächtlichen Volkshochschul-Spraykurs im U-Bahn-Depot absprechen. Dabei wird verdrängt, dass Style Writing vom Wesen her eine rein auf Selbstdarstellung angelegte kompetitive Erscheinung mit teilweise egozentrischer und egomanischer Ausrichtung ist.
17)
»Umso interessanter wird natürlich der Umstand, dass Kunstinstitutionen wie Artists Space ihre Türen für Graffiti öffneten. Je mehr Aufregung die gebombten Subways in der städtischen Öffentlichkeit erregten, desto interessanter wurde die Bewegung für diese gerade entstehende, alternative Kunstszene der Stadt. […] Dass Graffiti in sich hierarchisch und seinem Zweck nach egoistisch war, wurde auch damals schon klar gesehen. Beim Kunstkritiker Peter Schjeldahl, der einen Text für das kleine Katalogheft zur Ausstellung verfasste, fand die „elitist and egocentric new form of expression“ gerade deshalb Anerkennung, weil sie Kunsttheorien oder antielitären Prinzipien nicht gehorche und stilistische Individualität zum absoluten Zweck erhebe.« – Streichholz, Josef: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – GRAFFITI ALS SCHLAUER IDIOT, Abruf am 11.12.2022
18)
Eine Studie der Universität Potsdam ergab, dass bei Bereitstellung von legalen Wänden und Auftragsarbeiten, diese von ca. 20 % der Sprayer, die weiter nur illegal tätig sind, abgelehnt werden. Ca. 65 % der Akteure nehmen diese Angebote formal an, sprühen aber dennoch weiter illegal; lediglich ca. 15 % aller Sprayer malen dabei ausschließlich legal. – Rheinberg, Falko / Manig, Yvette: Was macht Spaß am Graffiti-Sprayen? Eine induktive Anreizanalyse, in: Report Psychologie. - 28 (2003), 4, S. 222 - 234, 2003, S. 8
19)
»Unter schwedischen Graffitikünstlern gibt es einen allgemeinen moralischen Konsens, wo man nicht malt: Kirchen, Einfamilienhäuser und Privatautos zum Beispiel sind tabu. Wenn ich Berliner Writer frage: „Wo würdest du nicht malen?“, starren sie mich verständnislos an.« – Lindblad, Tobias Barenthin: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – TOD UND LEBEN VON GRAFFITI, Abruf am 23.11.2022
20)
SCHMIEREREIEN: Erfurt will Graffiti an der Krämerbrücke entfernen, MDR Thüringen, 29.07.2022: https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/mitte-thueringen/erfurt/kraemerbruecke-graffiti-entfernung-bausewein-100.html, Abruf am 12.01.2023
22)
»Der korrupte Zustand vielseitiger Instrumentalisierbarkeit und Affirmativität von Graffiti […] ist historisch sehr früh eingetreten; noch bevor Graffiti seine inzwischen fast globale Erfolgsgeschichte begann. […] Vieles am Verhältnis der beiden Szenen von Kunst und Graffiti war wechselseitiges Missverständnis, aber nicht alles. Die Graffitibewegung hatte der Kunst in jenen Jahren mit spielerischer Leichtigkeit vorgeführt, was diese erhoffte, aber nicht zu verwirklichen schaffte: eine kreative Praxis mit den denkbar geringsten Zugangsschranken, untrennbar verwoben mit dem Lebensalltag; ein Modell von unentfremdeter Produktivität, das in seiner radikalen Selbstverantwortlichkeit ohne den Zwang zur Mehrwertschöpfung in der Tat ein subversives Moment innewohnt. […] Graffiti hat ohne politische Agenda, quasi als Idiot, das erreicht, was avantgardistische Ansätze oder die alternativen Kunstszenen nicht konnten und nie erreichen werden. Ein subversives Moment wohnt Graffiti also auch im Verhältnis zur Kunst inne: Solange diese die Verbindung zu Galerien, Museen und Kunst als Beruf zu erhalten versucht, bleibt sie zwingend und eng gebunden an die ökonomischen Strukturen ihres gesellschaftlichen Milieus. Die ökonomischen Potentiale der Kunst bleiben Graffiti so natürlich verwehrt.« – Streichholz, Josef: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – GRAFFITI ALS SCHLAUER IDIOT, Abruf am 11.12.2022
23)
»Die Präsenz von Graffiti in großen kommerziellen Galerien ist ein Phänomen, das auf die 1980er Jahre beschränkt geblieben ist. […] Graffiti, so kann man nach Jahrzehnten sagen, ist keine Kunstbewegung unter anderen geworden. […] Graffiti [führt] ein Dasein am Rande der Kunst – ein historisches Alleinstellungsmerkmal, denn vergleichbare populärkünstlerische Phänomene […] brachten es irgendwann doch zur akzeptierten künstlerischen Technik.« – Streichholz, Josef: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – GRAFFITI ALS SCHLAUER IDIOT, Abruf am 11.12.2022
24)
Sandra Rummler bemängelt in diesem Kontext, dass gealterte Sprayer oft Privilegien für sich beanspruchen, die sie als Jugendliche anderen nicht zugestanden haben: »Fraglich und fast sektenhaft ist ebenfalls die grundsätzliche Heiligsprechung aller Oldschooler. Wenn sich jemand erdreistet über ein Piece rüberzugehen, was jemand beispielsweise vor 10 Jahren gemalt hat, dann geht das große Weinen los. Mit anderen Worten: Ich scheiße auf das Eigentum anderer Leute, doch sobald jemand „mein“ Eigentum (Bild) nicht achtet, verhalte ich mich genau wie die Leute, die ich vorher für Ihre Gartenzwergmentalität verachtet habe.« – Rummler, Sandra: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – IDEE UND WIRKLICHKEIT, Abruf am 04.12.2022
25)
David Alexander meint dazu nicht ohne Sarkasmus: »Die früheren Vorgaben und Auflagen haben sich [heute] verflüchtigt. Der Anachronismus hält Einzug. Die Kids von früher sind sprühende Rentner geworden, der einstige Bite zum Zitat.« – Alexander, David: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – ES DARF NICHT DIR GEHÖREN, Abruf am 10.12.2022
26)
»Außerdem leisten in […] Vereinen engagierte Ehrenamtliche […] Großes im Hinblick auf eine Politisierung von Graffiti, wobei auch nicht unter den Tisch fallen darf, dass die Bemühungen von Graffitivereinen sich leider zu häufig auf das Ergattern legaler Flächen oder von Auftragsarbeiten belaufen.« –Jung, Matze: The Death of Graffiti (digitale Online-Ausgabe) – „EACH ONE TEACH ONE“ – ABER WAS DENN EIGENTLICH?, Abruf am 05.12.2022
27)
Die Anzahl der erfassten Fälle von Sachbeschädigung durch Graffiti in Deutschland pegelte sich seit 2013 um die Größenordnung von ca. 100.000 Delikten pro Jahr auf hohem Niveau ein. Vgl. GRAFFITI INTERDISZIPLINÄR, Hauptartikel Graffiti: Historische Einordnung, Abruf am 12.01.2023
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  • von graffitaro