Graffiti: Definition
Definition: Graffiti verkörpern eine visuelle anarchische Kommunikationsform, bei der die Botschaft mittels unautorisiert erstellter schriftlicher und bildlicher Darstellungen verbreitet wird.
1. Allgemeines
Die überwältigende Mehrzahl aller Publikationen zum Thema Graffiti verengt dieses komplexe gesellschaftliche Phänomen auf Teil- oder Nebenaspekte (z.B. Kunst, Street Art, Style Writing, Illegalität, Protest, Vandalismus, Kommerz).1) In den meisten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Thema scheitern die Autoren daran oder scheuen sich, eine allgemeingültige Definition des Begriffs Graffiti aufzustellen. In der Szene selbst wird der Begriff, außer zur Kommunikation mit Außenstehenden, kaum genutzt, sondern meist durch andere Termini ersetzt, welche die jeweiligen Akteure als zutreffender für ihr jeweiliges Schaffen sehen (z. B. Tag, Piece, Bombing, Writing, Toy). Eingrenzungen, Verengungen und Substitutionen des Begriffs Graffiti mögen im jeweiligen Kontext und aus dem jeweiligen Blickwinkel verständlich sein, eignen sich jedoch nur in der Gesamtheit zum Erkennen allgemeingültiger und zeitloser Wesensmerkmale.
Ohne eine klare Definition als Basis wird eine interdisziplinäre analytische Annäherung an die Thematik sowie die Nutzung der gewonnenen Erkenntnisse für praktische Anwendungen (z.B. die Erarbeitung nachhaltiger Strategien im Umgang mit Graffiti) nicht möglich sein. Die o. a. Definition soll als solche Basis für die weitere Betrachtung des Phänomens Graffiti im Rahmen dieses DokuWiki-Projekts dienen. Unbenommen davon sind andere Definitionen im anderen Kontext denkbar.
2. Graffiti als unautorisiert erstellte Objekte
Allen Graffiti ist wesenseigen, dass sie unautorisiert erstellt wurden, d.h. ohne Beauftragung, Genehmigung oder sonstige Legitimierung der privaten oder öffentlichen Personen, die die rechtliche Herrschaft an der betroffenen Sache ausüben. Auch eine etwaige nachträgliche Autorisierung ändert daran nichts. Bereits 1970 definierte die Enciclopaedia Universalis:
»Heute ist der Begriff für alle Arten von nicht-offiziellen Zeichnungen oder Inschriften üblich geworden, die sich auf einer architektonischen oder anderen Oberfläche befinden, deren Hauptfunktion üblicherweise nicht für Zeichnungen oder Inschriften vorgesehen ist […]« 2)
Norbert Siegl benutzt in diesem Zusammenhang den Begriff „ungefragt“3) . Merriam-Webster charakterisiert Graffiti als „usually unauthorized“4) . Der Brockhaus setzt den Schwerpunkt der Beschreibung auf Graffiti als inoffizielle Botschaften.5) Die erste mitteldeutsche Graffitistudie definiert Graffiti als „nicht vom Eigentümer autorisiert“ und schließt Auftragsarbeiten und Arbeiten an legalen Flächen explizit aus.6) Der Duden hingegen verzichtet in diesem Kontext gänzlich auf eine Wertung.7) 8)
Die Bezeichnung „unautorisiert“ wurde bewusst gewählt, um explizit eine Abgrenzung zum häufig im Kontext Graffiti verwendeten Terminus „illegal“ zu verdeutlichen. Letzterer ist als rechtliche Kategorie bereits einseitig belegt und lässt die für die Analyse gebotene akademische Neutralität vermissen. „Unautorisiert“ dagegen wird umfassender verwendet und umfasst neben rein rechtlichen auch moralische und weitere Aspekte. Aus historischer Sicht gab es Graffiti bereits, als ein Rechtssystem noch nicht oder höchstens rudimentär existierte. Somit soll durch die Begriffswahl die Betonung auf die moralische Verwerflichkeit anstelle der strafrechtlichen Relevanz gelegt werden. Weiterhin greift die - gelegentlich anzutreffende - Charakterisierung von Graffiti als „illegal gefertigt“ oder „zumeist illegal gefertigt“ sowohl logisch als auch juristisch zu kurz.
Aus logischer Sicht muss es auch legal erstellte Graffiti geben, wenn Graffiti nur zumeist illegal gefertigt sind. Gibt es somit sowohl legal als auch illegal erstellte Graffiti, verbietet sich das Merkmal „illegal“ zur allumfassenden Definition, unabhängig davon, wie groß der Anteil illegal erstellter Graffiti an der Gesamtzahl tatsächlich ist.
Auch aus juristischer Sicht ist eine generelle Bewertung des Erstellens von Graffiti als illegal zu hinterfragen. Da es im deutschen Recht keinen Straftatbestand „Erstellen von Graffiti“ o. ä. gibt, muss bei Verfolgung auf andere Tatbestände (Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch u. a.) zurückgegriffen werden. Erst durch gerichtliches Urteil im konkreten Fall wird das Erstellen von Graffiti zur Straftat und somit illegal. Weiterhin muss davon ausgegangen werden, dass nicht in allen Staaten sowie sonstigen Jurisdiktionen das Erstellen von Graffiti einen Straftatbestand nach sich zieht. Auch ändert sich die Gesetzgebung erfahrungsgemäß im Zeitgeist. Da die Einstufung von Graffiti als „illegal erstellt“ somit der gerichtlichen Würdigung sowie örtlichen und zeitlichen Schwankungen unterliegt, taugt dieses Merkmal nicht für eine allgemeingültige Definition.
Als Schlussfolgerung aus der Einstufung von Graffiti als unautorisiert erstellt, ergibt sich, dass legal beauftragte Werke im Graffitilook und solche auf freigegebenen Flächen keine Graffiti im Kontext dieser Analyse sind. Bereits Jean Baudrillard erkannte in den 1970er Jahren, dass beauftragte oder geduldete Wandmalereien sich im Rahmen der etablierten Ordnung bewegen und somit außerhalb des genuin anarchischen Wesen von Graffiti einzuordnen sind:
»Allem Anschein zum Trotz haben die City Walls, die Wandmalereien, nichts mit Graffiti zu tun. […] Die Initiative zu diesen Wandmalereien kommt von oben, sie ist ein mit kommunalen Subventionen zu Wege gebrachtes Unternehmen der urbanen Innovation und Animation. […] Aber darin genau liegt ihre Grenze. Sie bringen die Architektur ins Spiel, aber ohne die Spielregeln zu brechen.«9)
Gleichwohl werden graffitiähnliche Auftragsarbeiten und Darstellungen auf freigegebenen Flächen im Weiteren mit zu betrachten sein, da sie zwar vom Wesen keine Graffiti sind, jedoch durchaus Bestandteil einer nachhaltigen Strategie des Umgangs mit (unautorisiert erstellten) Graffiti sein können.
3. Graffiti als schriftliche und bildliche Darstellungen
Graffiti sind visuell wahrnehmbare Objekte, die durch einen gestalterischen Schrift- oder Bildgebungsprozess (Malen, Zeichnen, Sprühen, Drucken, Ausschneiden, Gravieren, Kratzen, Ritzen, Ätzen u. a.) auf Oberflächen erstellt werden. Ungefragt im öffentlichen Raum erstellte Zeichnungen sind seit unseren kulturgeschichtlichen Anfängen Träger von Graffitibotschaften. Mit dem Entstehen des Style Writing ab den 1960er Jahren in den USA rückte das geschriebene Namenszeichen (das Pseudonym des Writers oder der Crew) ins Zentrum der Graffitierstellung. Im Kontext American Graffiti bildet ein Namenszeichen oder ein sonstiger Schriftzug bis heute die Basis jedes Graffitos, auch wenn diese gelegentlich durch bildliche Elemente ergänzt oder sogar gänzlich ersetzt werden.
Das alleinige Verhüllen, Umwickeln, Verdecken etc. von Oberflächen ohne schriftliche oder bildliche Gestaltung zählt somit im engeren Sinne nicht als Graffito.
4. Graffiti als Kommunikationsform
Auch wenn es Sprayern höchste Genugtuung bereitet, ihr gelungenes Graffito auf einer vorbeifahrenden, von vorn bis hinten besprühten S-Bahn genießen zu können, erstellen sie es doch nie nur für sich selbst. Alle Graffitiersteller wollen, dass ihre Werke von anderen Personen bewusst visuell wahrgenommen werden. Gelegentlich richtet sich das Werk auch an konkrete Personen oder Personengruppen. Graffiti sind immer Kommunikation, sie sind Botschaften an die Umwelt, die Emotionen, Denkprozesse oder Handeln bei anderen auslösen sollen. Die Botschaft kann dabei in der Lautstärke vom leisen Grummeln bis zum lauten Aufschrei, im Inhalt vom bloßen Verkünden des eigenen Namens bis zur weltbewegenden, tiefgründigen philosophischen Erkenntnis und im Zweck vom einfachen narzisstischen Heischen nach Aufmerksamkeit bis zum Streben nach höchster Anerkennung und Ruhm, reichen. Siehe dazu auch den Hauptartikel Graffiti: Ursachen und Motivation.
Die gelegentlich anzutreffende Verhaltensweise, dass Style Writer ihre Werke unmittelbar nach Abschluss fotografieren, zerstören und dann die Fotos im Web oder anderweitig veröffentlichen, ändert nichts am Wahrnehmungsanspruch, sondern verlagert diesen lediglich. Solche Handlungen sind entweder als künstlerische Marotten einzustufen oder entspringen Befürchtungen, dass die Werke unverzüglich entfernt oder verändert werden könnten.
Der Anspruch auf bewusste, reaktive Wahrnehmung durch andere Personen ist somit eines der wesentlichen Merkmale von Graffiti. Das Erkennen dieses Wesenszuges ist Voraussetzung zur Annäherung an dieses gesellschaftliche Phänomen.
Die gelegentlich anzutreffende Charakterisierung, dass Graffiti im öffentlichen und privaten Raum erstellt werden, ist zwar korrekt, taugt aber nicht für eine Definition. Aus rein logischer Sicht ist jeder Raum entweder öffentlich oder privat (halböffentlich als Untermenge mit eingeschlossen), womit die Aussage banal wird. Auch eine Betonung der möglichst großen öffentlichen Sichtbarkeit kann als Wesensmerkmal nicht akzeptiert werden. Wenn bspw. jemand mühsam bis in die entlegenste Grabkammer einer ägyptischen Pyramide vordringt und dort sein Ich-war-hier-Zeichen in die Wand kratzt oder mit Fackelruß an die Decke schreibt, dann macht er das nicht für eine möglichst breite Öffentlichkeit. Vielmehr hinterlässt er eine Botschaft für die Wenigen, die es auch bis dort hin schaffen, wenn auch nach ihm: „Ich war schon hier!“. Graffiti können somit, müssen aber nicht zwingend an eine möglichst große Öffentlichkeit gerichtet sein. Wesentlich ist lediglich, dass sie an andere gerichtet sind.
In der öffentlichen Wahrnehmung werden Graffiti oft als eine Form der Kunst eingeordnet. Dies mag darin begründet sein, dass lediglich als Kunst wahrgenommene Graffiti bisher eine gewisse gesellschaftliche Akzeptanz erlangen konnten. Eine Verengung des Begriffs Graffiti auf Kunst wird jedoch dem Wesen und der Komplexität dieses Phänomens in keiner Weise gerecht und ist somit als Definitionsbestandteil ungeeignet (siehe dazu auch: → Hauptartikel: Graffiti und die Freiheit der Kunst).